Silke Scheuermann: Reiche Mädchen

George Konell-Preis (Wiesbaden)

Silke Scheuermann
Reiche Mädchen

Erzählungen

164 Seiten. Gebunden.
€ 17,90   €[A] 18,40   
ISBN: 978-3-89561-370-8

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»Immer vor Gewittern«, sagte sie später, als sie am Fenster saßen, mit Aperitifs und Erdnüssen aus der Minibar, »immer vor Gewittern bist du am besten, das habe nun ausnahmsweise einmal ich herausgefunden«, sie spielte mit der Fernbedienung, natürlich, sie mußte ausgerechnet in den trautesten Minuten ihrer Zweisamkeit mit dem Herumzappen anfangen und noch mindestens vier blonde Moderatorinnen, ein leukämiekrankes Kind, eine Millionärsehefrau und eine Horde verzottelter Demonstranten ins Zimmer zu holen. Zum Glück blieb sie einigermaßen schnell im dritten Programm hängen, »Tatort«, sagte sie mit einer Begeisterung, die ihm merkwürdig vorkam angesichts der Tatsache, daß es sich um eine in regelmäßigen Abständen ausgestrahlte Serie handelte, »das ist Kommissar Brinkmann«. Carl war sich nach drei Minuten sicher, daß sie diese Tatort-Folge schon gesehen hatten, diese Baugrube, aus der sie die Leiche holten, kam ihm ausgesprochen bekannt vor, und er verdächtigte sofort die rothaarige Witwe, wofür es eigentlich gar keinen Grund gab, aber er schwieg, strich nur Sofie mit der Hand über den Rücken und sagte: »Aber wenn es losgeht, machst du aus, ja?«
Noch vor dem ersten Donnergrollen war der Film zu Ende, sie warteten, sie hatte erstaunlicherweise darauf bestanden, daß nicht ein einzelner Sessel, sondern das ganze Sofa ans Fenster gerückt wurde, und zufrieden über ihr höfliches Interesse an seiner Wetterforschung, hatte er es, unter Ächzen und Stöhnen, bewerkstelligt. Nach ein paar Minuten, in denen die andauernde Stille ihn immer mehr erwarten machte, sagte Carl: »In alten Zeiten glaubten die Menschen, Blitz und Donner seien die Waffen von Göttern und Zeichen ihres Zorns, heute wissen wir, daß es Naturerscheinungen sind«, und Sofie bemerkte, friedlich in seinen Arm gekuschelt: »Schöne Erscheinungen«.
Nichts regte sich, aber er wußte, was da draußen, unsichtbar, gerade passierte, daß die warme, feuchte Luft sehr schnell in die hohen, kalten Bereiche der Lufthülle gerissen wurde, und nach noch mehr quälenden Minuten, endlich, sah er dann tatsächlich, wie riesige Wolkentürme sich aufbauten, Cumulonimbuswolken, Gewitterwolken – gerne verwechselt mit Cumuluswolken, Schönwetterwolken –, einer gigantischen, himmlischen Blumenkohlzucht nicht unähnlich.
Er puffte Sofie in die Seite und flüsterte: »Sieh doch«, und sie hielt ausnahmsweise still, sagte kein Wort, schnaubte nicht einmal, sondern schaute mit ihm zu, wie einzelne Sonnenstrahlen als feine Risse durch die Wolken drangen. Er fand diese Stärke des Lichts ehrfuchtgebietend, sie erinnerte ihn wieder daran, daß dort oben eine Instanz thronte, Gott, fordernd, mächtig, niemals müde. Carl unterdrückte seinen Impuls, zu winken, den Wolken entgegenzuwinken.
Dann kam der Donner. Er sah einen verzweigten Blitz zucken. Der Himmel war plötzlich mit Strähnchen frisiert. Doch so famos das aussah, es waren nichts weiter als normale Gabelblitze, nichts Ungewöhnliches, und er war ein wenig enttäuscht. Abgesehen davon fiel ihm zum ersten Mal die Ähnlichkeit mit einer Krampfader auf.
»Jetzt«, sagte er gepreßt.
Aber das war auch schon alles gewesen. Wasser prasselte wie eine zusätzliche Wand aus dem grauen Nichts, er hörte die Anlasser von Autos, und weiter weg sah er ein rotes, rundes Licht, das vermutlich, nein, ziemlich sicher, ein Scheinwerfer war. Die Welt draußen schwamm unter seinem Blick davon. Er war maßlos enttäuscht. Es mußte an seiner Konzentration gelegen haben, anders konnte er sich das nicht erklären. Oder war das Runde, Rote doch kein Scheinwerfer gewesen, sondern in kleiner, ganz kleiner Kugelblitz?
»Schon vorbei«, sagte Sofie vorsichtig, und er sagte aus einem Impuls heraus: »Da war einer, nicht so groß«, aber es klang nicht sehr glaubhaft, nicht einmal vor sich selbst. Doch exakt aus diesem Grund trieb er es noch auf die Spitze, indem er sie fragte: »Hast du ihn gesehen?« Er fragte auffordernd und ein wenig resigniert, er hoffte, sie würde nicht bemerken, daß er den Tränen nahe war.
Aber nein, sie wirkte unsicher, geradezu eingeschüchtert.
»Ich weiß nicht, ja, doch, ich glaube«, sagte Sofie, er verstand nicht gleich, aber es war die Antwort auf seine Frage, damit sagte sie nichts weniger, als daß sie diesmal etwas gesehen hatte, sie, nicht er. Nicht zu fassen, konnte es sein, daß in diesem Fall sie die schnelleren Augen, den konzentrierten Blick gehabt hatte? Er sah sie an, sie lächelte verstört, freundlich, kein bißchen ironisch, als wäre sie überrumpelt vom Vorgefallenen.
In seinem Kopf ratterte es... wenn sie auf einmal über seine Fähigkeit verfügte... konnte es denn sein, daß da ein Austausch stattgefunden hatte, sich die Energie von einem auf den anderen Körper übertragen hatte?
Doch, das hielt er durchaus für möglich.
»Du hast also etwas gesehen«, bekräftigte er mehr als daß er fragte, und sie schaute ihn liebevoll an, »so ein rundes, orangefarbenes Ding, nicht wahr, genau, das hab ich gesehen«.
Carl überlegte, ob er auf die Möglichkeit von Scheinwerfern zu sprechen kommen sollte, andererseits war dahinten, am Waldstück, ein Auto doch mehr als unwahrscheinlich, und die praktische Sofie hätte, wenn es sich um solche gehandelt hätte, mit Sicherheit kein Blatt vor den Mund genommen. »Und?« fragte er, »ich meine, wie fandest du ihn?« Dabei umarmte er sie so fest, daß er kaum ihre in seine Schulter genuschelte Antwort hörte, »sehr schön«.
Aber er wußte, daß dies viel, sehr viel mehr war als nur sehr schön, es war ein Wunder, denn das hieß, daß es so war, daß sie gemeinsam imstande waren, ins Unbekannte vorzudringen, die Grenzen ihrer Erfahrung zu verschieben und vielleicht nach einer echten Suche Erkenntnisse zu gewinnen, die schwer zu erlangen waren, ja, so mußte es sein, welche Gabe! »Und du wirst morgen nicht behaupten, das hättest du nur mir zuliebe gesagt?« wollte er sicherheitshalber wissen, sie erwiderte: »Nein, werde ich nicht. Ich habe doch gesagt, ich mag Gewitter«, aber noch während Sofie nun immer wortreicher das Gesehene bestätigte und er sie dabei drückte und herzte, formte sich in seinem Kopf eine neue Theorie, eine, die davon handelte, daß sich Fähigkeiten zwar übertragen konnten, die Voraussetzung dafür jedoch war, daß zwischen zwei Menschen eine Liebe bestand, so enorm, daß das Unsichtbare sichtbar und das Unhörbare hörbar wurde, eine Liebe, die sogar zuließ, daß Sofie jetzt ungeduldig fragte: »Können wir endlich etwas zu essen bestellen?« und dabei ein Gesicht machte, als hätte sie in jeder Hinsicht gewonnen. Er ignorierte das, denn er war glücklich.
Die ganze Welt war ein Lampenschirm, und er war das Licht.

Rezensionen

»Silke Scheuermann ist ein großes Talent. Sie ist eine Hoffnung für die deutsche Literatur - und also eine Hoffnung für uns Leser (...).«
Uwe Wittstock, Die Literarische Welt - Buch der Woche

»Schöner kann man vom Glück und all den anderen Illusionen des Lebens nicht schreiben.«
Kolja Mensing, Frankfurter Allgemeine Zeitung

»Silke Scheuermann hat bisher ironisch tänzelnde Gedichte geschrieben. Ihr Prosa-Debüt ist ein Glücksfall.«
Welt am Sonntag

»Jeder einzelne Satz atmet Poesie. Ihre sieben kleinen Sprachkunstwerke sind zugleich abgründig und lakonisch. Und tragisch wahr.«
Brigitte

»Scheuermanns Stil ist angenehm schnörkellos und amüsant (...). Geradezu ein Pamphlet für das Zweifeln am anderen und sich selbst (...).«
Jenni Zykla, literatz

»Mit Silke Scheuermann ist eine wunderbar ironische Autorin zu entdecken, eine heitere Sekretärin der menschlichen Unvollkommenheit.«
Anton Thuswaldner

»Große Erwartungen und heilsame Enttäuschungen schmiegen sich in diesem Buch stets verführerisch eng aneinander. Scheuermann kann mit Wörtern flüstern - und dann wieder recht laut werden.«
Shirin Sojitrawalla, Wiener Zeitung

»Reiche Mädchen ist ein Band, der überrascht.«
Anne Rullmann, NDR

»Silke Scheuermann hat eine ironische Distanz zu ihren Figuren. Sie bewundert ihre Mädchen nicht, doch sie spürt die Tragik hinter den schönen Fassaden auf.«
Harald Klauhs, Die Presse

»Die beharrlichen Versuche, dem Leben ein Stück Glück abzuringen, sind großartig geschildert.«
Neue Presse

»Silke Scheuermann bewegt sich auf hohem sprachlichen Niveau und dennoch oder vielleicht gerade deswegen wirken ihre Sätze schlank und elegant.«
Regina Schilling, EMMA

»Eines der interessantesten Prosa-Debüts des Frühjahrs. Es fesselt durch vorzüglichen Stil, rasante Dramaturgie und wahrhaftige Beobachtungen über die Sehnsucht.«
Sächsische Zeitung am Sonntag

»Lyrikerin Silke Scheuermann stellt sich mit diesem Buch als spannende Erzählerin vor, die das Lebensgefühl einer neuen Lost Generation (...) messerscharf beschreibt.«
Glamour

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