Patrick Hofmann: Die letzte Sau

Patrick Hofmann
Die letzte Sau

Roman

288 Seiten. Gebunden.
€ 19,90 (UVP)   €[A] 20,50   
ISBN: 978-3-89561-480-4

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Ihre Eltern, Sonja und eine Frau saßen am Tisch und frühstückten. Sie begriff nicht.
»Das is Annegret, meine Ältste.«
Die Fremde schaute sie an, ob kurz oder lange, hätte Annegret nicht zu sagen gewusst. Irgendetwas ging aus von der Frau, das spürte sie. Dann verstand sie, was ihre Mutter ihr zurief: »Nu setz dich schon hin. Das is Frau Kampradt.« Annegret errötete, weil sie die Fremde so lange angestarrt hatte.
Nach ihr kamen Wolfgang, Kathrin und ihre Tochter, zum Teil schon angezogen, zum Teil noch in Schlafsachen. Als sie der Fremden die Hand reichten, brach etwas in ihnen auf – und was immer es auch war, es überraschte und band sie.
Kathrin stand der Mund offen, was ihr Doppelkinn unvorteilhaft zur Geltung brachte.
Sabine kam ein langes »Wow!« über die Lippen. Als sie sah, wie artig selbst ihr Vater am Tisch saß, nahm sie ihren Mut zusammen und setzte sich neben die Fremde.
Die Schlachterin unterhielt sich mit Albrecht und Hertha, als Achim und René zur Tür hereinkamen. »Moin, Moin«, grüßte Achim in die Runde und gab jedem die Hand, außer seiner Frau. »Dir schmeckts hier ja wieder.«
Der Gruß seines Vaters schien René für zwei zu reichen, weswegen er hinter ihm nur die Hand gab und nickte.
»Na, Biene, hast du ne Freundin aus Berlin mitgebracht?« Achim zwinkerte Sabine zu und hielt der Fremden die Hand über die Schulter.
Die Schlachterin sah ganz langsam zu ihm auf. Sonja hielt den Atem an: Sie glaubte eine Art von Belustigung im Gesicht der Fremden zu erkennen. Achim, zu der Frau gebeugt, nahm die plötzliche Stille wahr, als ihm durch den Kopf schoss, dass eine Frau der Schlachter sein könnte. Sein Oberkörper schnellte zurück. Die Hand, die der Bewegung nicht folgte, stand grotesk von ihm ab. Die Schlachterin wandte sich ab. Sonja – rot angelaufen – atmete aus, kicherte hinter vorgehaltener Hand und stellte Mann und Sohn vor.
»Nu such dir endlich ä Stuhl«, rief Hertha, »un lass deine Gute ruhig was essen. Die hat nämlich noch gar nischt Richtiges hintergekriegt, un bis es was Frisches gibt, is es noch ä Weilchen hin.«
Sonja betrachtete ihre Mutter. Die saß fast stolz am Tisch, wo sie sonst immer im Haus herumrannte und alles durcheinanderbrachte.
»Annegret, schenk deim Schwager ma ne Tasse Kaffee ein! Was is denn nu mit den Eiern? Willsde nur dein Mann bedien? Un Kathrin, setz ma ne Kanne Muckefuck an. Mei Guter hier trinkt doch keen Kaffee.« Sie strich René, der vor so viel Gunst errötete, über den Kopf.
Es gab wenige Orte, wo Sonja sich so wohl fühlte wie in der Küche ihrer Eltern: Die Rennerei vor den Mahlzeiten zwischen Speisekammer, Herd und Spüle, der Geruch von Schnitzeln oder Eiern, die in reichlich Butter brieten, die schweren Pfannen – sie verfluchte sie jedes Mal, wenn sie die scheuern musste –, der Küchenofen, das zusammengewürfelte Geschirr, die Schnelligkeit, mit der der Tisch gedeckt und alles Essen ausgepackt wurde, wie die Türen der Zimmer und Schränke schlugen, das Geschirr und Besteck, die Töpfe, Schneidbretter, Untersetzer und Pfannen auf den Tisch knallten, die Hektik, bis alle am Tisch saßen und im Handumdrehen zu essen anfingen, außer Hertha, die stets noch irgendwas aufzutischen suchte und hernach aß, was übrigblieb. Sonja liebte es, wie ihr Vater das Brot an die Brust drückte und es entweder mit ganz ungeeigneten oder gefährlich geschliffenen Messern schnitt; die elektrische Brotschneidemaschine, die Annegret vor Jahren mitgebracht hatte, ging schon lange nicht mehr. Oft nahm ihm Sonja die Runken gleich aus der Hand und belegte sie für ihn, damit das Essen schneller ging. Sie mochte die kurzen Handgriffe und Verständigungen am Tisch, die keine Mühe waren und kein Gespräch wurden. Und sie hatte stets einen gesunden Appetit.
Jetzt ging es seltsam ruhig zu in der Küche. Sie saßen gespannt am großen Tisch, schlugen die Eier auf, belegten die Brötchen mit Aufschnitt. Zwei Stück Butter lagen auf dem Tisch. Butter wurde bei Schlegels nicht aufs Brot gestrichen, sondern in Scheiben daraufgelegt. War ein Stück nur noch viertelst groß, kam es gar nicht mehr auf den Tisch – das galt als Schande –, sondern bei nächster Gelegenheit in die Pfanne.
Sonja drehte verstohlen den Kopf: neben der Fremden Sabine, dahinter die große rote Propangasflasche, René an der Speisekammertür, vor dem hellblauen Küchenschrank Hertha, Albrecht, Wolfgang, an der alten Schleuder Achim mit Annegret, neben ihr Kathrin. Als die Frau anfing zu sprechen, war sich Sonja nicht sicher, ob sie laut oder leise sprach.
»Es gibt Schlachter, die lieber alles selber machen, bevor sie etwas erklären, die den andern nichts zutrauen. Die stürzen sich in ihre Arbeit, um den Menschen aus dem Weg zu gehen, arbeiten verbissen, während die anderen die Hände in die Taschen stecken. Das ist bei mir nicht so.« Sie lächelte in die Runde. »Arbeit ist etwas, das sich ganz gut verteilen lässt. Die schwierigen Arbeiten, die mit Gefühl, mach ich selber. Den Rest macht ihr.« Sie biss in ihr Brötchen. Auch die anderen bissen zu und kauten. »Einmal, ich hatte mir«, sie spülte mit Kaffee nach, »bei einer Prügelei einen Finger gebrochen, hab ich einhändig geschlachtet, die Sau noch selbst abgestochen und den Leuten dann erklärt, wie es weitergeht. Das machte denen nach einer Weile richtig Spaß, vor allem den Frauen mit den großen Messern in den Händen.« Sie lachte. »Dass die Männer das Schwere machen, das Sichtbare, worauf es ankommt, zupacken beim Schwein, beim Fleisch, und die Frauen ihnen zuschauen, dass die Männer gerade auf ihrem Fleck stehen, bedächtig nicken, während die Frauen das Leichte machen, das Nebensächliche, das ganze Drumherum, Eimer schleppen, in jeder Hand einen, im Rücken der Männer, nur mit Brettern, Töpfen, Wannen, Kellen in Berührung kommen, wobei ihnen niemand zuschaut, in der Küche, an der Spüle, am Herd, auf dem Hof, womit sie sogar stören, hoppla!, zwischen den Männerbeinen das Waschhaus durchwischen, Mensch, muss das denn jetzt sein?!, dass die Frauen sich bücken, hin- und herrennen, pausenlos schnattern, den Männern die Gläser füllen, dass sie noch putzen und schimpfen, wenn die Männer längst besoffen sind«, sie hielt, die Fäuste auf dem Tisch, inne, holte Luft, »das gibts bei mir nicht. Dafür hab ich die falsche Schürze um.«


© Schöffling & Co. Verlagsbuchhandlung GmbH, Frankfurt am Main 2009.

Rezensionen

»Man kann diesem Roman in seinen Einzelheiten nachspüren. Man kann ihn aber auch in einem Zug lesen, als sinnesfrohe, tragikkomische deutsche Familiengeschichte.«
Tobias Heyl, Süddeutsche Zeitung

»Detailreich führt Patrick Hofmann in die Abläufe der prompten Fleischverarbeitung ein und veranschaulicht – wahrlich keine Lektüre für Vegetarier! – die sinnlichen Reize von Blutwurst und Kesselfleisch.«
Rainer Moritz, Neue Zürcher Zeitung

»Ein erstaunlich gelungenes Buch – von einem Autor, der so entschlossen und originell debütiert, ist noch einiges zu erwarten.«
Michael Martens, Frankfurter Allgemeine Zeitung

»Eine leichte Verschiebung des Erwarteten nur, doch der Autor nutzt diesen Moment geschickt, um alle Gewissheiten (...) aufzulösen.«
Brigitte

»Das Wasser läuft einem beim Lesen regelrecht im Mund zusammen. Es wäre wirklich schade, wenn kein Schwein das Buch liest.«
Deutsche Welle

»Da wird minutiös das Zerlegen und Verwursten der Sau dokumentiert, die Geschichte der DDR und der Kriegsgeneration aufgearbeitet, schmutzige Familienwäsche gewaschen, gemeinsam herzhaft-derb gegessen.«
Xaver

»Hofmann hat eine Parabel geschrieben über drei Generationen einer ostdeutschen Familie, die, so Enkelin Kathrin, längst von der Zeit überholt wurde.«
Michaela Schmitz, WDR

»Die Metapher des Schlachtens steht nicht nur für das Zerlegen des Schweins, sondern auch für die untergegangene Welt der DDR und die neue Situation.«
Michael Hametner, MDR

»Eine sehr genau beobachtete tragisch-komische Familiengeschichte.«
Nordwest Zeitung

»Ein literarisches dynamisches Gefüge wie aus einem Guss.«
Kurt Neumann, Die Presse