Reinhard Kaiser: Unerhörte Rettung

Reinhard Kaiser
Unerhörte Rettung

Die Suche nach Edwin Geist
Mit zahlreichen Photos und Abbildungen

360 Seiten. Gebunden. Lesebändchen
€ 24,90   €[A] 25,60   
ISBN: 978-3-89561-065-3

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Mein erstes Tagebuch

Im März 1942 bekommt Helene Holzman ein Briefchen von Lyda aus dem Ghetto. Darin schreibt sie:

»Ich habe Edwin zugeredet, sich scheiden zu lassen. Es ist die einzige Möglichkeit, uns beide zu retten, denn hier geht er zugrunde.«

Lyda scheint die Schrecken und das tägliche Elend des Ghettos besser zu verkraften als ihr Mann, und zur formellen Scheidung hatte sie ihm schon geraten, als es noch um die Frage des Umzugs ins Ghetto ging. Ohne jüdische Frau wäre dem »Halbjuden« das Ghetto erspart geblieben. Im August 1941 hatte Edwin Geist die Scheidung von der geliebten Frau noch abgelehnt. Ein halbes Jahr später ist er zermürbt. Er verspricht »alles«, was von ihm verlangt wird, und kommt wirklich aus dem Ghetto frei. Eines Tages Ende März klingelt es bei Helene Holzman.

»Ich öffnete die Tür. Da stand Edwin – stand, nein, er fiel in die Wohnung, wie ein Wild, das in seiner Höhle Zuflucht sucht. Nicht mehr derselbe, von dem wir im August Abschied genommen hatten. Der früher ein wenig behäbige, genußfrohe, humorvolle Mann war dürr, mit scharfen Linien um Nase und Mund, wachsbleich und mit einem schreckhaften, hysterischen Zug in den vorstehenden Augen, die krausen, dunklen Haare sehr gelichtet. Und doch der alte Edwin. Eine Welle der Freude stieg in mir hoch, daß das Unwahrscheinliche wirklich gelungen und er, mag die Zeit ihn auch verändert haben, nun wirklich wieder da war. Er fand auch mich völlig verändert. Was tut’s? Wir waren die alten Freunde, umarmten und küßten uns und sprachen von nichts anderem als von Lyda und wie wir ihr helfen könnten.
Er blieb nur eine Stunde, denn er wollte noch einmal zurückgehen, seine Sachen abholen und noch zwei Tage bei Lyda bleiben. Wir beluden ihn mit Päckchen und nahmen leichten Abschied.«

Am 28. März 1942, einem Samstag, nimmt Edwin Geist nachmittags Abschied von Lyda und verläßt das Ghetto endgültig. Eine erste Unterkunft findet er bei den Holzmans. Margarete erinnert sich.

»Er kam mit einer Droschke. In Litauen verkehrte damals kein Kraftverkehr. Also brachte ihn eine Droschkenkutsche. Und kaum war er da, in der gleichen Nacht, kam auch schon die Polizei und wollte seine Papiere sehen. Die waren ja jetzt in Ordnung. Er durfte ja raus. Aber er hat sich furchtbar aufgeregt, wir natürlich auch – aber andererseits konnte er auch sofort wieder berlinische Witze machen. Das war eine ganz merkwürdige Art, die mir sehr Eindruck machte. Einerseits furchtbar Angst zu haben, fast hysterisch zu sein, und andererseits... – dahinter leuchtete immer wieder der Schalk auf, was ihm wahrscheinlich auch geholfen hat, diese Zeit zu überstehen. Denn er war sehr verhungert, sehr vernachlässigt, als er zu uns kam.«

Auch Helene Holzman beschreibt in ihren Aufzeichnungen die Heimsuchung durch zwei litauische Polizisten, nachts gegen drei Uhr.

»›Sie haben hier Juden versteckt. Wo sind sie? Wenn Sie sie nicht freiwillig herausgeben, werden wir sie selbst holen, aber dann wird es Ihnen schlecht ergehen.‹ Sie kamen in unser Zimmer, suchten im Schrank, hinter den Vorhängen, im Bett, unter dem Bett. Dann öffneten sie Koffer, Schubfächer, kleine Büchsen auf dem Schreibtisch. So gingen sie durch die anderen Zimmer, öffneten den Besenschrank, die Balkontür, störten unsere Mieter auf und gerieten zuletzt zu Edwin. ›Da ist er.‹
Es nützte nichts, daß Edwin seine polizeiliche Wohnerlaubnis vorzeigte. Er mußte sich anziehen und mit aufs Polizeirevier. Er war so aufgeregt, daß er sich kaum ankleiden konnte. Da er nichts zu rauchen hatte, bat er mich, die Polizisten um eine Zigarette zu bitten. Sie gaben bereitwillig und änderten auf einmal ihren Ton. Die Haussuchung geschehe auf eine Denunziation hin. Man beruhigte mich, mein Gast werde nach Prüfung der Papiere wieder entlassen werden. Er kam wirklich nach einigen Stunden zurück.«

Am folgenden Tag, Palmsonntag 1942, mittags um 2 Uhr, vierundzwanzig Stunden nachdem er das Ghetto und seine Frau verlassen hat, beginnt Edwin Geist, in einem einfachen Schulheft ein Tagebuch zu schreiben – ein Tagebuch für Lyda.

»Gestern mittag Schlag 2 verließ ich das Dorf [das Ghetto]. ... Bei einer sanft ansteigenden Biegung entschwand das Dorf meinen Blicken, und ich erinnere mich mit einem Gefühl des Ekels an die Devotion der anderen beim Abschied; aber auch manch’ rührender Zug war vorhanden.
Dieses, mein erstes Tagebuch, schreibe ich nur für Dich. In verschiedenen kritischen Augenblicken meines Lebens hatte ich die Absicht, ein solches zu führen, doch unterließ ich es immer aus menschlicher Unachtsamkeit. Aus menschlicher Unachtsamkeit, ja, das ist das treffende Wort. Nun bin ich achtsam geworden, denn großes Leid schärft die Sinne... Wann wirst Du diese Blätter lesen? Wird es bald sein??«

Edwin Geist denkt nicht daran, seine Frau im Stich zu lassen oder zu verraten. Kaum hat er sich von Lyda getrennt, da wendet er sich ihr in seinem Tagebuch wieder zu, ist ihr wenigstens in Gedanken nah, beginnt ein Zwiegespräch mit ihr, in dem sie fürs erste notgedrungen eine stumme, aber nichtsdestoweniger die Hauptrolle spielt.

Rezensionen

»Für die Darstellung wählte Kaiser eine kluge Komposition und fand einen nüchternen, nachdenklichen Ton. Und doch ist jede Seite seines Buches von atemberaubender Spannung erfüllt, ohne daß der Autor der Versuchung nachgegeben hätte, dem beinahe unglaublichen Stoff und seinen Protagonisten noch durch romanhafte Gestaltungsmittel zuzusetzen.«
Volker Breidecker, Süddeutsche Zeitung

»Ein spannend geschriebener Text, der dem verfemten Komponisten postume Würdigung zuteil werden lässt.«
Robert Schopflocher, Spiegel

»Ein aufwühlendes Buch, das man lange nicht vergisst.«
Welt am Sonntag

»Das atemberaubende Fallbeispiel eines Künstlers im Dritten Reich (...). Kaisers Entdeckung von Geist ist nicht hoch genug einzuschätzen.«
Cornelius Hell, Die Presse/Spektrum

»Die Suche nach der historischen Wahrheit entfaltet einen enormen Sog. Der Leser fiebert mit bei Geists Ringen um die Freilassung seiner Lyda.«
Tagesspiegel

»Zwei Menschen mit all ihren Plänen, Wünschen, Hoffnungen, ihrem Ringen, mit Mut und Verzweiflung, vor allem mit ihrer großen Liebe zueinander, treten aus dem Dunkel ins helle Licht des Gegenwärtigen. Der Autor hat sich nicht mit den bekannten Berichten zufrieden gegeben, sondern sich auf eine mühevolle Spurensuche begeben und Verfälschungen entkleidet.«
Sabine Neubert, Neues Deutschland

»Kaisers beharrliche Recherchen, seine feinfühligen Portraits und sein Engagement für die späte `Rettung´der in Litauen umgekommenen Juden beeindrucken tief.«
Sylvia Schwab, Deutschlandradio

»Kaiser lässt die Ängste und das Elend der in Litauen lebenden Juden geradezu körperlich spürbar werden. Hier handelt es sich um eine wahre Geschichte. Eine Liebesgeschichte und zugleich ein Mahnmal.«
Sonntagsblick

»Kaisers Buch ist nicht nur das eindringliche - und zutiefst traurige - Portrait einer von Nazis ermordeten Künstlerpersönlichkeit, sondern auch ein ungemein spannend zu lesender Blick auf europäische Nachkriegsgeschichte und die unterschiedliche Art in Ost und West mit Erinnerung umzugehen.«
Deutsche Welle

»Unter den sechs besten Büchern«
Salzburger Nachrichten

»Ein wertvolles und genau recherchiertes Dokument über eines der vielen vergessenen Opfer der NS-Zeit.«
Buchkultur

Außerdem erschienen von Reinhard Kaiser

Reinhard Kaiser: »Dies Kind soll leben«Reinhard Kaiser: »Dies Kind soll leben« (Hörbuch)Reinhard Kaiser: Eos' GelüstReinhard Kaiser: KindskopfReinhard Kaiser: Königskinder