Margit Schreiner: Buch der Enttäuschungen

ORF-Bestenliste Platz 1

»Richtig gut und klug und mit sehr viel Ironie geschrieben. Ein wunderbares Buch.«
Elke Heidenreich in LESEN!

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Werkprospekt
Margit Schreiner

Margit Schreiner
Buch der Enttäuschungen

Roman

176 Seiten. Gebunden. Lesebändchen
€ 18,90   €[A] 19,50   
ISBN: 978-3-89561-276-3

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Wir sind es nicht gewöhnt, den Geist zu lieben. Immer wollten wir nur den Körper lieben und andere sollten auch unseren Körper lieben. Und zwar trotz seiner Mängel. Bereits mit dreizehn oder vierzehn Jahren stehen wir, wenn wir Mädchen sind, stundenlang vor dem Spiegel und finden überall etwas auszusetzen an uns. Sind wir männlich, beginnt es erst mit sechzehn oder siebzehn: Der Bauch ist nicht flach genug oder zu flach, konkav irgendwie, die Hüftknochen sind zu deutlich sichtbar oder gar nicht sichtbar, die Beine sind krumm und nicht lang genug, oder sie sind gerade und lang, aber nicht schlank genug oder sie sind zwar lang und schlank genug, aber nicht geformt genug oder sie sind zu geformt oder die Knie sind zu dick, die Füße zu groß, der Hals zu lang oder zu kurz oder wir entdecken gar ein Doppelkinn, wenn wir uns im Profil betrachten, indem wir den Kopf auf die Brust senken. Außerdem ist, wenn wir weiblich sind, der Busen zu klein oder zu groß, wenn wir männlich sind, der Oberkörper zu kurz oder zu lang, besonders im Verhältnis zum Gesamtkörper, die Haare sind zu glatt und zu fett oder zu lockig und zu trocken, die Farbe stimmt sowieso grundsätzlich nicht und die Nase ist immer entweder grotesk groß oder lächerlich klein, stupsnäschenartig, die Augen sind zu schmal, Schlitzaugen nachgerade, oder sie sind so groß, dass es ausschaut, als rissen wir sie Tag und Nacht weit auf vor Staunen. Die Wimpern sind nie dicht und dunkel genug, die Ohren stehen in einem bestimmten Alter unweigerlich ab, die Arme sind grundsätzlich zu lang und die Finger zu dick und zu kurz, außer sie sind zu lang und zu knochig. Zu alledem haben wir noch überall im Gesicht Pickel. Aber Gott sei Dank entdecken wir dann schnell, dass wir die Pickel mit Gesichtswasser behandeln und mit Cremen überdecken können und dass die Beine mit bestimmten Hosen länger ausschauen. Die Hüften und das Gesäß verdecken wir mit weiten Sweatshirts. Gegebenenfalls auch den zu großen Busen. Sind wir männlich, können wir uns nun, ob es nötig ist oder nicht, täglich rasieren, wir können Bartwuchsmittel auf Nachnahme bestellen und Muskelcremen. Oder wir können einfach ununterbrochen trainieren. Flaumige Barthaare lassen sich auch mit Wimperntusche verstärken. Die Haare können wir täglich frisch waschen und färben. Sind wir weiblich, können wir sie außerdem entweder mit Papilloten eindrehen oder mit Lockenentferner glätten, die Augen mit Eyeliner größer schminken, die Wimpern tuschen, die Augenbrauen färben, den kleinen Busen mit einem Push-up vergrößern, die Nase pudern, die Lippen anmalen. Das Doppelkinn können wir vermeiden, indem wir notfalls das Kinn besonders hoch tragen. So lernen wir uns und die anderen zu täuschen. Und genau das ist unser Problem zwischen zwanzig und dreißig. Wir denken, dass wir unsere Umwelt ununterbrochen über uns täuschen. Wir denken, dass wir die Lehrer täuschen und die Professoren, die Ausbildner und die Weiterbildner und die Chefs und die Personalchefs. Und die Männer, wenn wir Frauen sind, und die Frauen, wenn wir Männer sind. Wir denken zu Recht, dass wir nicht das sind, was wir scheinen und wofür sie uns halten, und deshalb müssen wir immer aufpassen, dass wir nicht erwischt werden bei den Täuschungen. Wir müssen aufpassen, was wir sagen und wann wir es sagen, und immer bedenken, wie wir es sagen, wir müssen aufpassen, wie wir uns bewegen und dass wir uns nicht zu viel oder zu wenig bewegen und was unsere Mienen verraten. Wir müssen aufpassen, dass unsere Mienen nicht zu viel verraten, aber wir müssen auch aufpassen, dass sie nicht gar nichts verraten, weil wir dann versteinerte Mienen hätten und dadurch erst recht zu erkennen gäben, dass wir unsere Professoren und Ausbildner und Chefs und vor allem die Männer oder die Frauen ununterbrochen täuschen. Unzählige Dinge dürfen wir deshalb nicht tun: Wenn wir Frauen sind, dürfen wir nicht zu viel lachen und nicht zu laut lachen, wir dürfen aber auch nicht zu wenig lachen oder zu verkrampft lachen, wenn wir Männer sind, müssen wir dröhnend laut lachen, dürfen aber unter keinen Umständen weinen. Wir dürfen nicht einmal feuchte Augen bekommen. Frauen dürfen nicht saufen, Männer kein Mineralwasser trinken. Frauen müssen sich zieren, wenn Männer sie ansprechen, Männer müssen Frauen ansprechen, und zwar nicht irgendwie, sondern nach ganz bestimmten Regeln, die aber niemand kennt. Männer dürfen niemals einen Korb bekommen und Frauen müssen Männern stets einen Korb geben. Männer müssen Frauen auf jeden Fall herumkriegen und reinlegen und dann flachlegen, Frauen dürfen sich auf keinen Fall herumkriegen und reinlegen und schon gar nicht flachlegen lassen. Männer müssen Muskeln haben und Frauen große Brüste. Männer müssen kleine feste und Frauen große feste Hintern haben. Männer müssen wissen, was sie tun, und Frauen müssen wissen, was sie nicht tun. Frauen müssen besser tanzen können als Männer. Männer müssen stärker sein als Frauen. Deshalb müssen Männer zärtlich sein können oder zumindest Zärtlichkeit vortäuschen. Frauen müssen einen Orgasmus haben oder zumindest einen Orgasmus vortäuschen können. Männer müssen zuerst erigieren und dann ejakulieren, denn das kann man nicht vortäuschen. Männer müssen einen Job finden und Frauen müssen Männer finden. Wenn ein Mann eine Frau gefunden hat, was üblicherweise in diesem Altersabschnitt der Fall ist, kann der Mann sich aufs Geldverdienen konzentrieren und braucht die Frau nicht weiter zu täuschen. Die Frau muss versuchen, den Mann, den sie gefunden hat, zu behalten und muss daher weiter Zärtlichkeit, Verständnis und einen Orgasmus vortäuschen, damit sie ihn nicht wieder verliert. Männer und Frauen müssen sich fit halten, weil die Gesellschaft fitte Menschen braucht und keine verbrauchten oder kranken oder alten Menschen.
Und wir glauben, das ginge immer so weiter und der Körper stünde ganz zu unserer Verfügung. Der aber verfällt. Von Anfang an. Die ersten Verfallserscheinungen sind noch unauffällig. Wir entdecken große Poren im Gesicht, helle Streifen auf dem Bauch, und zwar unabhängig davon, ob wir Männer oder Frauen sind und ob wir, falls wir Frauen sind, bis dahin schwanger waren oder nicht, Ansätze zur Orangenhaut auf den Oberschenkeln, wenn wir Frauen sind, Ansätze zu einem Bierbauch, wenn wir Männer sind, feine Fältchen auf dem Hals und unter den Augen, kleine rote Punkte auf der Haut. Der Busen, egal ob männlich oder weiblich und egal ob groß oder klein, hat sich kaum merklich gesenkt. Ebenso der Hintern. Wir müssen neuerdings eine Zange verwenden, um unsere Zehennägel zu schneiden, und einen Bimsstein, um die Hornhaut zu entfernen. Wir verwenden Haarkuren gegen die plötzlich zu trockenen oder zu fettigen oder schuppigen Haare und Vitamincremen fürs Gesicht und den Körper. Und wenn uns die Beine jetzt manchmal wehtun, dann verwenden wir Fußbäder und Stützstrümpfe, und gegen die Rückenschmerzen nehmen wir Schwefelbäder.
Wir denken ja immer, es könnte alles wieder so werden, wie es früher war. Das stimmt aber nicht. Nichts wird wie früher. Gar nichts. Die Falten lassen sich niemals wieder glätten, kein Haltungsschaden ist reversibel, kein Seh- oder Hör- oder Gelenkschaden zurücknehmbar, jeder Beinbruch verändert alles so wie jede Verrenkung, jede Erkenntnis, jede Liebe und jede Kränkung. Alles hinterlässt seine Spuren. Besonders das Leben.

Rezensionen

»Ihr Raffinement verdankt sich einer Pseudonaivität, die nicht an der Oberfläche bleibt, sondern das Normale im Abgründigen zeigt und umgekehrt.«
Ulrich Weinzierl, Frankfurter Allgemeine Zeitung

»Ein von der Tragik und Komik des Lebens gleichermaßen durchdrungenes, angenehm unberechenbares Buch. Die Autorin hat damit ihr bislang poetischstes Werk vorgelegt.«
Wolfgang Schneider, Frankfurter Allgemeine Zeitung

»Nichts für Optimisten, eher für intelligente Leute. Dieses Buch der Enttäuschungen hält, was es verspricht. (...) Steigerungen sind immer noch möglich: Schreiner schreibt glänzender denn je.«
Berliner Morgenpost

»Margit Schreiner erweist sich wieder mal als Meisterin der Rollenprosa. Sie ermöglicht einen geradezu entlarvenden Blick auf gesellschaftliche Machtverhältnisse und ideologische Glücksversprechen.«
Christa Gürtler, Der Standard

»Schreiner nimmt sich das Recht der Literatur auf subjektive, radikale Fokussierung eines Phänomens. Das tut sie mit scharfem analytischem Blick, mit bewundernswerter stilistischer Souveränität (...).«
Christian Schacherreiter, Ober Österreichische Nachrichten

»Altern ist in der jüngsten Literatur ein großes Thema. Doch Schreiners protokollartiger Bericht ist in seiner Dichte (...) mit diesem unerbittlichen, aber gleichzeitig humorvollen Ton einzigartig.«
Evelyne Polt-Heinzl, Die Furche

»Margit Schreiner schlägt den Bogen vom Kleinkind zum Greis und stellt in so exakten wie amüsanten Beschreibungen die Ähnlichkeit beider Welten dar.«
Profil

»Ein Plädoyer für jene in den Hintergrund gedrängten Lebenszusammenhänge, in denen nicht Konkurrenz und Leistung, sondern Empathie und Geduld vonnöten sind.«
Christa Nebenführ, Die Presse

»Die Lektüre ist eine Reise durchs Leben - mal nachdenklich, mal schreiend amüsant.«
Nordkurier

»Was nach der Lektüre bleibt, ist Verblüffung über soviel Weisheit in einem Band, der - vollgepackt mit guten Geschichten - erheitert und nachdenklich macht.«
Suzanne König, ex libris

Außerdem erschienen von Margit Schreiner

Margit Schreiner: Das menschliche GleichgewichtMargit Schreiner: Die EskimorolleMargit Schreiner: Die Tiere von ParisMargit Schreiner: Haus, Frauen, Sex.Margit Schreiner: Haus, Friedens, Bruch.Margit Schreiner: Heißt liebenMargit Schreiner: Kein Platz mehrMargit Schreiner: Mein erster Neger / Die Rosen des Heiligen BenediktMargit Schreiner: MobilmachungMargit Schreiner: Mütter. Väter. Männer. KlassenkämpfeMargit Schreiner: Nackte VäterMargit Schreiner: Schreibt Thomas Bernhard Frauenliteratur?Margit Schreiner: Sind Sie eigentlich fit genug?Margit Schreiner: Vater. Mutter. Kind. Kriegserklärungen