Ror Wolf: Verschiedene Möglichkeiten, die Ruhe zu verlieren


Ror Wolf Werke

Ror Wolf
Verschiedene Möglichkeiten, die Ruhe zu verlieren

Ein Lesebuch. Sonderausgabe.
Ausgewählt und kommentiert von Brigitte Kronauer

208 Seiten. Gebunden
€ 9,95   €[A] 10,30   
ISBN: 978-3-89561-325-8

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Später kam wieder was anderes (1975)

Bevor ich geschrieben habe, habe ich gelesen. Bevor ich gelesen habe, habe ich geschrieben. Aber bevor ich geschrieben und gelesen habe, habe ich mir Geschichten erfunden, in die ich nachts wie in den warmen Bauch hineinkriechen konnte.
Es war niemand da, der mir Geschichten erzählt hat. Mein Vater war auf Reisen mit vielen Grüßen. Meine Mutter stand hinter der Ladenkasse und sagte nicht viel. Mein Großvater saß schweigend auf dem Schusterstuhl, unablässig auf Sohlen und Absätze ein¬schlagend, die Zwecken zwischen den Lippen. Meine Großmutter schaute zum Fenster hinaus. Dort sah sie den Spitzberg, den Roten und den Breiten Berg und den Schwarzen Berg und hat mir keine Geschichte erzählt.
Anfang neununddreißig verbrachte ich einige Zeit mit der normalen Schreibschrift nach Ludwig Sütterlin.
Danach folgte die Einübung in die Druckschrift. Mein Vater war mit einer grauen Mütze verschwunden. Meine Mutter stand fremd und fern hinter der Kasse. Mein Großvater war vom Schusterstuhl gefallen und tot. Meine Großmutter schaute zum Fenster hinaus und vertrocknete stumm. Ich las:
der Tisch ist rein. Tasche. Tinte. Tante
die Dose ist rund. Dach. Docht. Daumen
da du dem doch und rund
der Sand die Hand
der Koch das Loch
der Zeiger zeigt die Zeit
Ich las: ich lese ich rechne ich male ich laufe ich lache ich höre ich sehe ich rufe ich freue mich.
Das war also die erste Begegnung mit dem Gedruckten. Ein Abenteuer. Ein Lese-Erlebnis. Ich machte mich auf und davon mit Strohhalm, Kohle und Bohne zum Berg Semsi.
Ich rief: Eisenhans! und er kam aus dem Wald heraus. Der fliegende Robert riß mich hinauf in die Luft, wo ich fortflog. Aber nun saß ich wieder da. Diese Zeit war vorbei. Robinson, Rübezahl, Siegfried und Sigismund Rüstig; alles war durchgespielt in der Essig¬fabrik mit Kowalski und Kürbis; oder im Schuhlager zwischen dem Ledergeruch in den Regalen.
Ich weiß nicht, war das erst Robinson, der für die Jugend gestutzt und verkürzt durch den Sand gegangen ist mit dem Palmenschirm? oder vielleicht lag doch eher Gulliver mit seinem einen Fuß im Meer und mit dem anderen in einer ganz anderen Gegend. Eines Tages hatte ich angefangen zu lachen. Ich hatte ein Buch in der Hand und las dieses Wort: Lederstrumpf. Das war, fand ich, ein außerordent¬liches Wort, das war unwiderstehlich: Leder-Strumpf. Ich habe fast einen Tag lang gelacht, obwohl ich einen Wattebausch mit dem Mittel Po-ho im Backenzahn hatte. Aber ich lachte trotzdem über dieses Wort: Lederstrumpf. Und wann bitte war das? war das vierzig oder einundvierzig? oder früher? oder noch früher? jedenfalls war diese Zeit vorbei.
Läßt sich jetzt, wo ich zu graben beginne, dieses erste Lese-Erlebnis unbeschädigt ausgraben? Oder war es nicht vielmehr eine ganze Reihe von Erlebnissen mit Büchern, die inzwischen zusammengewachsen sind? Da fällt mir ein: Bobby Box, eine sehr wichtige Bekanntschaft, eine Figur aus dem Cigarettenbilder-Album, gemischt aus Charlie Chaplin und Harry Langdon. Kein erlesenes Lese-Erlebnis, aber ich habe Bobby Box geliebt und ich liebe ihn heute noch.
Karl May? sechzig Bände mit aller Macht und Wucht; aber das war später. Frank Allan, der Rächer der Enterbten; alles später. Vorher kam noch die Zeit der Kriegshefte. Niemals ist etwas nach dem Lesen spurloser aus meinem Kopf verschwunden als diese endlose Kette von Siegen und Siegen und Siegen. Allenfalls ein paar Titelstümpfe kommen beim Ausgraben zum Vorschein: Stoßtrupp So¬undso/Calais sturmreif ja Mölders und seine Männer oder war es Prien? also gut: Prien und seine Männer in dieser Zeit mit Fanfarenstößen und Sondermeldungen, in der Schurschill, der dicke Lügenlord und der schwarze dünne Schamberlein eins nach dem andern auf die Nuß bekommen haben. Ich zog die Verdunklung herunter und las wahrscheinlich Panzerspähwagen westwärts. Oder ich saß nachts im Keller, mit dem Brummen darüber und gelegentlich mit den fernen, aber wirklich noch sehr fernen Detonationen und las: Bomber über Dünkirchen.
Diese Zeit war noch längst nicht vorbei. Doch eines Tages saß ich vielleicht in der Stube. Ich hatte die Raupen, die damals in ungeheuren Schwärmen über den Kohl wanderten, mitten im Fressen abgerissen und in den Bottich geworfen. Oder ich hatte Schnee geschaufelt vor der Haustür und Viehsalz gestreut. Und was nun? Vielleicht bin ich aufgestanden zweiundvierzig oder dreiundvierzig im Sommer oder im Winter und habe mich auf den Weg zum Herrenzimmer gemacht. Rechts entlang, an der Küche vorbei, in der es wahrscheinlich dampfte, weiter den langen Gang entlang, am Klosett vorbei, wo die Sonne hineinstach, durch das menschenleere Schlafzimmer und weiter durch eine neue Tür in einen anderen Gang, drei Stufen knarrend hinunter, links mein Zimmer, dann, ebenfalls links, das letzte Zimmer, das Herrenzimmer, in dem es im Sommer sehr heiß und im Winter sehr kalt war. Nehmen wir an, es war Sommer, dann war es sehr heiß. Oder nehmen wir eine gemäßigte Jahreszeit an, weder heiß noch kalt. Aber das spielt keine Rolle. Worauf es jetzt ankam, waren die schönen ledernen Bücherrücken. Goethe und Ganghofer und Dostojewski und Rosegger und so weiter in vielen Reihen hintereinander. Ich bin an diesen Rücken vorbeigegangen und habe etwas gesucht und nichts gefunden, und darum bin ich den ganzen Weg, den ich beschrieben habe, wieder zurückgegangen und bin hinausgegangen und die Saalstraße hochgegangen, dann durch die Brudergasse gegangen und rechts durch die Klostergasse zum Schießteich gegangen, oder, um eine Abkürzung auszuprobieren, zwar durch die Brudergasse gegangen, aber nicht durch die Klostergasse, sondern durch die Hans-Schemm-Straße gegangen, bis zum Schießteich. Und ich ging und ging und trat schließlich in einen ¬Laden hinein, in dem Herr Ost neben den Ausrüstungsgegenständen für Briefmarkensammler auch Wunderkerzen, Taschenspiegel, Lakritzestangen aus Pferdeblut, unübertreffliche Murmeln und Gummischützer, sogenannte Frommser, prachtvolle Preßbilder, Tril¬lerpfeifen und Zündblättchen für sanfte Pistolen, perlenbestickte Portemonnaies und andere Dinge von unschätzbarem Wert führte und zu alledem auch eine Leihbücherei betrieb. Dort also fand im Jahr zweiundvierzig oder dreiundvierzig eine für diesen Beitrag wichtige und für meine Zukunft entscheidende Begegnung statt. Ich entdeckte, im Hintergrund, unterhalb von Heimatromanen und Liebesromanen, etwas im Dunkeln des Ladens, gebückt in der Nähe des Fußbodens, schmächtig und fleckig, in einem finsteren feierlichen Moment, eine Reihe von Büchern eines Mannes, dem ich hiermit mein erstes Lese-Erlebnis zuschreibe. Dieser Mann hatte einen Bart.
Was mich im Handumdrehen für ihn einnahm, waren die Illustrationen. Dann auch die Titel: Die Leiden eines Chinesen in China / Ein Drama in den Lüften / Das Dampfhaus.
Nehmen wir an, es war dreiundvierzig. Dann hatte ich also im Jahr dreiundvierzig, vielleicht gegen Abend, vom Schießteich aus, Hans-Schemm-Straße, Brudergasse Richtung Saalstraße, ein kleines bräunliches Buch aus dem Verlag Hartleben in der Tasche. Ich ließ die Verdunklung herunter. Ich blätterte ein bißchen herum. Plötzlich wurde ich eingesogen in dieses Buch; aufgeschluckt von einem Autor: Jules Verne.
Was wollte ich eigentlich damals haben? Das, was der Verlag Hartleben im Klappentext annoncierte? einen Autor, aus dessen Schriften man so leicht belehrt, so angenehm unterhalten werden kann? Ich wollte mich nicht belehren lassen. Auch nicht auf angenehme Weise. Ich war auf der Suche nach Lesegrotten, in die ich hineinspazieren konnte, in denen ich mich verlaufen konnte.
Diese Begegnung ist nicht ohne Folgen geblieben. Etwas glüht nach von damals, von den Überraschungen und Verblüffungen im Umgang mit seinen Büchern; und etwas von heute strahlt zurück auf dieses Erlebnis; etwas von heute, wo Jules Verne ganz in der Nähe von Kafka und Beckett und Robert Walser in meinem Regal steht.
Lesen und Leben sind bei mir, meine ich, zu stark miteinander vermischt. Das eine ist ohne das andere nicht denkbar. Aber gerade deshalb ist es auch schwer, mit Sicherheit zu sagen, was damals ¬diesen außergewöhnlichen Eindruck auf mich gemacht hat. Seine Komik, seine Phantastik, seine eigenartige Poesie haben mich wahrscheinlich mehr fasziniert als das technische Inventar. So wie ich heute (und auf die Kopulation zwischen zwei Zeitabschnitten kommt es mir an) Verne nicht als den großen technischen Vorausschauer sehe. Das, was er an technischem Beiwerk anbietet, kann man ohne Mühe auch in den zeitgenössischen illustrierten Zeitungen, in Reiseberichten und Sachbüchern nachlesen. Verne hat das auch gelesen. Er hat alles geplündert, was ihm in die Hände kam. Er schnitt, sammelte, klebte wieder zusammen; und aus diesen Fetzen entstanden unerhört bizarre Bilderbogen mit merkwürdig zusammengeschrumpften Perspektiven.
Er ist nicht der Erfinder der Ballone und Unterseeboote und Flugmaschinen; aber er setzt sie in Bewegung und sie bewegen sich nach seinem Kommando in seinen Büchern, die zugleich magisch sind und real, komisch und melancholisch, grausam zärtlich entsetzlich und poetisch und fratzenhaft und fabelhaft. Und dabei stellt er wie spielend eine sich fortwährend verändernde Umwelt dar.
Eine Zeit war Jules Verne aus meinem Leben verschwunden, aber 1960, gegen Abend, tauchte er plötzlich wieder auf. In einer Collage von Max Ernst: in der Ballongondel zusammen mit Fantômas und Dante, etwas in der Hand haltend wie ein Barometer oder ein Hygrometer oder ein Manometer.
Und wieder kurze Zeit später erschien er beim Blättern in alten ¬illustrierten Zeitschriftenbänden, die mir die Antiquare damals fröhlich und rasch aus ihren Abstellkammern geholt haben, und die ich für etwas Kleingeld in großen Koffern nach Hause schleppte.
In der Leipziger Illustrierten, Jahrgang 1875, las ich: »Man liest diese Bücher anfangs mit Kopfschütteln. Wer soll heutzutage ganze Bände voller Windbeuteleien und Phantastereien lesen. Da ist die Zeit zu kostbar dazu, bald aber findet man, daß die Phantasie des Autors nur Beiwerk ist. Daß uns der Verfasser in allem Ernst« (in ¬allem Ernst! na also) »populäre wissenschaftliche Vorträge hält. Er ist ein verkappter Professor.«
Für Phantasie war also keine Zeit da. Auch 1875 nicht. Ein verkappter Professor!? Wohl doch eher einer, der sich als Professor verkleidet hat, um seine Windbeuteleien und Phantastereien an den Leser zu bringen. Nicht seine kolossalen Auftürmungen von Fakten, Zahlen und technischen Mitteilungen hatten mich fasziniert. Ich wollte Platz haben für meine Phantasie.
Und als ich im Jahrgang 1878 der Zeitschrift Das Neue Blatt las: dieser Mann belehre ja gar nicht, er »verwirre« vielmehr, weil er »die Grenzen zwischen der realen und der phantastischen Welt absichtlich verwische«. Na bitte. Ich glaube in diesem Moment hatte mich Jules Verne ganz verwirrend und ohne allen Ernst wieder für sich gewonnen. Und heute kommt es mir vor, als seien auch seine wütenden und hinterlistigen und opulenten Angebote von Details, seine stampfenden Wortreihen so etwas wie eine Vorwegnahme einer poetischen Methode von heute.
Dieser Mann mit dem Bart, der so fest auf dem Boden der Zahlen, Fakten, Belege zu stehen scheint, er springt fortwährend hinaus in eine knollige wuchernde sinnliche seltsam komische Landschaft, er springt schnaubt und fliegt in die Luft oder taucht hinab. Er bewohnt eine Welt, in der es zischt, pfeift und knallt und in der überall die mit Zahlen, Fakten, Belegen gefüllten Mundblasen aufsteigen und zerplatzen. Er läßt seine Phantasie tanzen, wie Robert Walser es mit den Worten macht.
So schwirrte ich atemlos mit Jules Verne eine Zeit durch die Gegend, bis er von der krachenden Faust Old Shatterhands zu Boden geschmettert wurde. Dann bestieg ich mein Pferd und ritt ein paar Jahre mit Bärentöter und Henrystutzen beim Untergang der Sonne davon. Schließlich verschwand ich am Horizont. Später kam wieder was anderes. Und so ging es weiter. Und am Ende war Jules Verne wieder da und rief unerhörte und folgenreiche Worte. Ich glaube, so war es.

Rezensionen

»Nun legt Kronauer ein Lesebuch vor, das sowohl für Wolf-Novizen als auch für Wolf-Aficionados ein reines Vergnügen ist.«
Manfred Papst, Neue Zürcher Zeitung am Sonntag

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