Reinhard Kaiser: Königskinder

Deutscher Jugendliteraturpreis

Reinhard Kaiser
Königskinder

Eine wahre Liebe
Erweiterte Neuausgabe
Mit zwanzig Abbildungen

128 Seiten. Gebunden.
€ 16,90   €[A] 17,40   
ISBN: 978-3-89561-064-6

In den Warenkorb

» Zurück zum Titel

Ich war nicht auf der Suche nach Geschichten, als ich die ersten Briefe von Rudolf Kaufmann an Ingeborg Magnusson fand – im Mai 1991, bei einer Briefmarkenauktion in Frankfurt. Vor der Auktion ließ ich mir von den mehr als siebentausend angebotenen Losen zehn oder zwölf zeigen, die ich mir im Versteigerungskatalog angekreuzt hatte. Das Los Nummer 6673 war in diesem Katalog so beschrieben: »Deutschland ca. 1890–1955, reichhaltige ungebrauchte, postfrische bzw. gestempelte Zusammenstellung mit auch Bündelware sowie Karten, Briefe und Paketkarten vom Deutschen Reich etc. in unterschiedlicher Erhaltung, enorm hoher Katalogwert! Limit DM 500,–«
Eine Pappschachtel, wie sich bei der Besichtigung zeigte, gefüllt mit Alben, Steckkarten, Pergamintüten und Zigarrendosen voller Briefmarken. Zwischen allerlei Massenware und einigen philatelistischen Besonderheiten stieß ich auf einen Stapel von ungefähr dreißig Umschlägen, alle vom gleichen Absender in Königsberg und einigen anderen deutschen Städten zwischen 1935 und 1939 aufgegeben, alle an die gleiche Empfängerin unter der stets gleichen Stockholmer Adresse gerichtet. In den Kuverts steckten noch die Briefe.
Zu ausgiebigem Lesen reicht bei der Besichtigung vor einer Auktion die Zeit nicht. Aber schon ein kurzes Auseinanderfalten von zwei oder drei dieser Briefe zeigte, daß in ihnen von einer Liebe in der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg ausgiebig die Rede war. Mehr wußte ich nicht, als ich beschloß, den Versuch zu machen, die Pappschachtel mit allem, was sie enthielt, Marken, Geschichte und Geschichten, zu erstehen.
Bei der Versteigerung zeigte sich dann, daß das Interesse an dem Los mit der Nummer 6673 beträchtlich war. Es entbrannte das, was Briefmarkenversteigerer in ihren Ergebnisberichten gern eine Bieterschlacht nennen. Allein um der Marken willen hätte ich nicht über das Doppelte des Ausrufpreises hinaus mitgehalten. Die Neugier auf die Briefe jedoch erlahmte auch jenseits des dreifachen Limits nicht. Aber je länger ich meine Karte mit der Bieternummer hochhielt, desto weniger verstand ich, wie jemand ohne mein doppeltes Motiv, Marken und Geschichte, den Preis für dieses Los derart in die Höhe treiben konnte. Zuletzt hatte ich es mit einem einzigen hartnäckigen, obendrein für mich unsichtbaren Gegner zu tun. Der Auktionssaal hatte die Form eines »L«. Ich saß im langen, mein Gegner im kurzen Balken des »L«, während der Auktionator hinter seinem Pult im Winkel dieses »L« stand und, abwechselnd auf mich und jenen anderen deutend, seinen Abzählvers aufsagte, die Zahlenreihe, die sich in monotonen und zugleich entnervenden Fünfzigersprüngen auf Zweitausend zubewegte.
Marken haben ihre Marktpreise. Manche mögen selten sein, aber einmalig sind die allerwenigsten. Für Marken werden Phantasiepreise kaum je gezahlt. Wer aber für eine Geschichte, die er nicht kennt, überhaupt etwas zahlt, ob viel oder wenig, der zahlt immer einen Phantasiepreis. So auch ich an jenem Samstagnachmittag im Mai 1991.
Ich trug den Karton, den ich ersteigert hatte, nach Hause – gespannt, was er enthalten würde, aber nicht darauf gefaßt, daß es eine Geschichte war, die mich für Jahre nicht mehr loslassen sollte.

***

»Mina lilla kaere Ingeborg, Da wirst Du mich ja trotz aller Schönheit Venedigs nicht vergessen haben und Deinen Aufenthalt in Bologna. Die beiden schönen Tage, die stecken mir noch ganz im Blute. Sie waren nur zu kurz. Das einzige, was mir bleibt, sind die Fotografien von Dir, wo Du mich 30 mal so »ganz verliebt« anlachst. Wenn Dir etwas auf den Bildern gefällt, so schreib es mir, denn dann will ich Dir doch Vergrößerungen machen. Da ist das Bild I und II, die Reihenfolge geht dann weiter so
1 2 3
4 5 6
7 8 9
10 11 12.
Also z.B. Bild I Nr. 8. Ich freue mich schon auf Deine Schreiben. Hoffentlich hast Du recht große Freude an Venedig. Deine rote Nase ist natürlich sehr gut getroffen! Sonntag gehe ich nach S.Luca und denke an Dich. Schreibe schnell, wann Du durch Greifswald fährst. Ich will meine Freunde benachrichtigen. D.h., du schreibst, wann Du von Berlin abfährst. Nun küsse ich Dich ganz, ganz herzhaft. Dein Rudolf.«

Ein Kärtchen ohne Datum, klein wie eine Spielkarte, auf beiden Seiten mit einer engen Schrift in schwarzer Tinte bedeckt, übermittelt einen Kuß – vielleicht den ersten Kuß, den er ihr schreibt, weil er ihn ihr nicht geben kann. Die wirklichen Küsse, die in Bologna diesem papierenen vorausgingen, sind verflogen. Von solchen wirklichen Küssen bleibt denen, die sich da einmal geküßt haben, die Erinnerung, und nachher bleibt von wirklichen Küssen vermutlich nichts. Der papierene Kuß jedoch, den die Post vor sechzig Jahren quer durch Europa beförderte, hat sich erhalten. Lesbar steht er da, eine Berührung, einst zwischen ihm und ihr über die Ferne des Raumes, nun eine zwischen ihnen und uns über die Nähe der Zeiten hinweg.

Rezensionen

»Ein tieftrauriges und sehr berührendes Buch entstanden, auch ein eminent literarisches Werk, denn Kaisers Rekonstruktion arbeitet mit allen Finessen der Montage von Schrift und Bild.«
Andreas Platthaus, Frankfurter Allgemeine Zeitung

»Reinhard Kaiser, danke für dieses Buch.«
Klaus Bednarz, ARD

Außerdem erschienen von Reinhard Kaiser

Reinhard Kaiser: »Dies Kind soll leben«Reinhard Kaiser: »Dies Kind soll leben« (Hörbuch)Reinhard Kaiser: Eos' GelüstReinhard Kaiser: KindskopfReinhard Kaiser: Unerhörte Rettung