Ausgezeichnet mit dem Ernst Meister-Förderpreis 2008
Mirko Bonné
Die Republik der Silberfische
Gedichte
Umschlagfoto von plainpicture/Folio
112 Seiten. Gebunden. Lesebändchen. Farbige Vorsätze
€ 17,90 €[A] 18,40
ISBN: 978-3-89561-402-6
Das schwarze Heft
Was notierte ich da über Katzen,
zweihundertzehn Katzen im Keller
der Eremitage? Und die Bankbrücke
über die Mojka mit den vier Greifen?
Sie verdoppeln das Kleingeld derer,
die hinübergehen wie zum Tod
zu den Trolleybussen
mit dem schiefen
Stromabnehmer. Da schliefen
an beschlagene Scheiben gelehnt
Russinnen wie sie in dem roten Mantel:
An der Fontanka stehend sah sie hinaus
auf den Fluss, als ich nervös rauchte
am Balkon der Majakowski-Bibliothek.
Wie aus dem Nichts nach der Lesung
stand sie vor mir und fragte auf Deutsch:
Warum hast du kein Gedicht vorgetragen?
Von der Newa kommen Militärwagen,
die im Geniesel den Schlossplatz
vorm Winterpalast überfluten
binnen Minuten,
im Regen der Lautsprecher
an einem verwaisten Kassenhaus
plärrt und keiner hört, obwohl
die Frauenstimme schön klingt,
sie hustet. Klebstoff und Kleister,
ausgekochtes Leder und die süße
Erde, in die nach Brandbomben
geschmolzener Zucker lief,
aßen die Leute, verhungert,
erfroren, elfhunderttausend,
als meine Großeltern jung vermählt
hinter verrußten Scheiben durchs Getto
zur arisierten Gentleman-Gummifabrik
von Lodz Tram fuhren. Blockade.
Leningrad. Die Krähen
über der Auferstehungskirche.
Da waren Leonardo, Watteau, Friedrich,
Fragonard und Runge, vor Mausfraß
bewahrt von den zweihundertzehn
Katzen im Keller der Eremitage,
und da war Gauß’ Sternwarte
beim Anflug auf Pulkowo.
Kasaner Kathedrale,
der Duft und die Leere,
verlassene Tragflächenfähre.
Sommergarten und Winterkanal.
Das Haus für Graf Orlow in Rufweite
Katharinas – Favorit, sagte die Dame
mit dem Pullunder voller Geranien
und fragte: Was kritzeln Sie da
eigentlich in das schwarze Heft?
Rezensionen
»Mirko Bonnés Gedichte entwickeln sich aus einem längeren Atem als dem, den sie zum schlichten Verlauten bräuchten – sie sind durchwirkt und bleiben angetrieben vom Atem eines Erzählers, der auch ein großer Leser ist. Jedes Gedicht eine embryonale Geschichte, fast jedes ein Lebensdokument.«
Felix Philipp Ingold
»Unter die Oberfläche des Alltäglichen flicht Bonné eine poetische Miniaturrealität, die die Dinge verrückt und einen neuen, staunenden Blick auf unsere Gewohnheiten und Gesten erlaubt.«
Nadja Wünsche, Frankfurter Allgemeine Zeitung
»Es ist sehr viel Lebenswirklichkeit in diesem Band.«
Herbert Wiesner, Die Welt
»Bonné hat einen exzellenten Lyrikband zuammenkomponiert, Gedichte, die ihn als das ausweisen, was er ist: Eine der wichtigen Stimmen der deutschen Gegenwartslyrik der jüngeren Generation.«
Christoph W. Bauer, Tiroler Tageszeitung am Sonntag