Margit Schreiner: Nackte Väter

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Margit Schreiner

Margit Schreiner
Nackte Väter

Roman

148 Seiten. Gebunden. Lesebändchen
€ 18,90 (UVP)   €[A] 19,50   
ISBN: 978-3-89561-274-9

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Nachdem meine Mutter und ich einen Tag nach meiner Ankunft in Linz und einen Tag vor dem Begräbnis zum Friedhof gefahren waren, wo mein Vater aufgebahrt lag, und ein blasser Mensch mit ovalem Gesicht uns aus einer Ecke hinter dem Sarg heraus gefragt hatte, ob wir den Verstorbenen noch einmal sehen wollten und meine Mutter gleich »ja« gerufen und der blasse Mensch zuerst die Blumen und Kränze zur Seite geschafft und dann behutsam den Deckel des Sarges geöffnet hatte und wir auf die verkrümmte, aufgebäumte Leiche meines Vaters gesehen hatten – der Kopf nach hinten gestemmt, der Mund weit, die Augen halb geöffnet –, so daß ich einen schrecklichen Augenblick lang sicher war, die Augäpfel hätten sich unter den Lidern bewegt und mein Vater hätte von meiner Mutter zu mir geschaut, so wie er es all die Monate im Pflegeheim gemacht hatte –, nachdem meine Mutter und ich also meinen Vater, sich aufbäumend und dabei wie im Krampf erstarrt, daliegen sahen, so dünn und verzerrt, und seine Arme unter dem kurzärmeligen, beigen Hemd, das meine Mutter gleich nach der Todesnachricht mit der dunkelblauen Krawatte ins Pflegeheim gebracht hatte, sichtbar waren, knochig und übersät mit roten und braunen und blauen Flecken, und das Gesicht, das ich doch einmal, vor langer Zeit, bis in alle Falten und Furchen hinein so genau gekannt hatte, ganz fremd und ausgetrocknet schien – die sonst faltige Haut jetzt straff gespannt von Knochen zu Knochen, die Nase spitz –, nachdem der blasse Leichenbestatter mithin den Deckel vom Sarg gehoben hatte und wohl selbst erschrocken war über den sich aufbäumenden, mageren und verzerrten Körper, über den weit geöffneten Mund und die halb geöffneten Augen und ich gedacht hatte, daß er nun etwas sagen würde, etwas Tröstendes oder auch Erklärendes, er aber, nachdem meine Mutter plötzlich laut und mehrmals hintereinander gerufen hatte: »Genau so hat er ausgesehen zum Schluß, genau so«, nichts gesagt, sondern nur zur Seite gesehen hatte, zu den Blumen und Kränzen, die er auf eine Art Ablage gelegt hatte und wieder auf den Sarg legen würde, wenn er geschlossen wäre, und nachdem ich meine Mutter dann untergehakt und regelrecht weggezogen hatte von dem Leichnam meines Vaters, dem sie noch, als ich sie schon zur Tür der Aufbahrungshalle hinausgezogen hatte, zurief: »Genau so hast du ausgesehen, genau so«, und nachdem wir dann am nächsten Tag beim Begräbnis hinter dem Sarg hergegangen waren, der von der Aufbahrungshalle in die Verabschiedungshalle getragen wurde – der blasse Mensch mit dem ovalen Gesicht und einer Art Zepter in der Hand voran, dann meine Mutter, meine Halbschwester und ich und hinter uns die Trauergäste und Verwandten –, und der Pfarrer Innerlohinger, ein alter Bekannter meiner Eltern, in der Verabschiedungshalle eine Rede hielt, in der er vom Leben sprach und vom Tod, als bestünde da nur ein feiner, kaum merklicher Unterschied, und der Sarg, auf dem das Bouquet weißer Rosen lag, das meine Mutter, meine Halbschwester und ich bestellt hatten, an der Fensterfront der Verabschiedungshalle stand, genau in der Mitte des Raums und ausgerichtet auf ein weit sichtbares Feld, über das während der Abschiedsrede des Pfarrers Hasen hoppelten, und wir endlich, gefolgt von Verwandten und Bekannten, wieder hinter dem von vier dunkel gekleideten Männern getragenen Sarg meines Vaters die Halle verließen, um ihm zu folgen, bis er schließlich am Ende eines Feldweges auf ein Auto geladen wurde und das Auto langsam in Richtung Krematorium losfuhr, mit angeschalteten Scheinwerfern, so daß wir noch lange die beiden roten Rücklichter sahen, und als plötzlich etwas in mir hochschwappte, von dem ich nicht gewußt hatte, daß es in mir war, und ich mich auf einmal am liebsten über den fest verschlossenen Sarg mit meinem Vater, der sich unaufhaltsam entfernte, geworfen und mit beiden Fäusten auf ihm herumgetrommelt und geschrien und geweint hätte, so daß ich mühsam versuchte, mich zu beherrschen, denn schon kamen die Bekannten und Verwandten, um zu kondolieren, da steckte mir meine Mutter plötzlich etwas Hartes, Spitzes, Glattes zu.
Ich ahnte gleich, daß ich es besser nicht vor den Augen aller ansah. Also hielt ich den Gegenstand in meiner linken Hand, während ich mit der rechten die Hände der Trauergäste schüttelte. Als ich mich endlich abwenden und die schweißnasse Hand öffnen konnte – ich weiß noch, die Sonne kam gerade zwischen den Wolken hervor und Vögel zwitscherten –, sah ich, daß ich ein künstliches Gebiß in der Hand hielt. Das heißt den oberen Teil eines Gebisses. Ich weiß nicht, wie ich reagiert hätte, wenn nicht in dem Moment mein blutjunger, hübscher, langhaariger Cousin zweiten Grades auf mich zugetreten wäre. Ich steckte das Gebiß in die Tasche des Persianermantels, den mir meine Mutter für das Begräbnis geliehen hatte, und hakte mich bei meinem Cousin unter.

Rezensionen

»Wer sich auf Margit Schreiners kurzen Roman vom langen Abschied einläßt, den läßt er nicht mehr los.«
Wolfgang Werth, Süddeutsche Zeitung

»Überlegt verhaltener und nie langatmiger Erzählstil.«
Tilman Spreckelsen, Frankfurter Allgemeine Zeitung

»Bilder vom eigenen Werden und vom Vergehen des anderen, die Margit Schreiner zu einem anrührenden Requiem zusammengefaßt hat.«
Hans Christian Kosler, Neue Zürcher Zeitung

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