Margit Schreiner: Die Eskimorolle

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Margit Schreiner

Margit Schreiner
Die Eskimorolle

Roman in Geschichten

192 Seiten. Gebunden. Lesebändchen
€ 19,90 (UVP)   €[A] 20,50   
ISBN: 978-3-89561-275-6

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Kommunistische Weihnacht

Petra hatte abgetrieben und erholte sich davon bei uns in der Wohngemeinschaft. Deshalb war soviel Watte im Haus.
Es war acht Uhr abends am 24. Dezember. Wir saßen in Werners Zimmer unter einer fast zwei Meter hohen Tanne, die wir kurz vor Geschäftsschluß von einem betrunkenen Tannenverkäufer in der Salzburger Innenstadt geschenkt bekommen hatten. Mit Petra waren wir zu sechst: Hans, von dem ich mich ein halbes Jahr vorher getrennt hatte, Paul, mit dem ich seither zusammen war, Werner, ein Politologiestudent, der in dem Haus schon mit zwei Wohngemeinschaften vor uns gelebt und deshalb das größte Zimmer mit Balkon im ersten Stock belegt hatte, Bernd, ich und eben Petra.
Bernd hatte sich an diesem Abend freigemacht. Er studierte seit Wochen so intensiv DAS KAPITAL, daß er normalerweise sogar seine Mittagspause auf ein paar Minuten beschränkte, die er auf der Eieruhr einstellte. Wenn die Eieruhr läutete, sprang er auf und lief in sein Zimmer zurück, egal, wie weit er mit dem Essen war. Aber meistens war er mit dem Essen längst fertig, weil er sowieso immer alles möglichst schnell in sich hineinschlang. Bernds Eltern waren Unternehmer, ich glaube, sie stellten Wein- und Spirituosenetiketten her, und hatten ein Haus am Mondsee, wo sie regelmä-
ßig Abendessen für Geschäftsfreunde arrangierten, an denen Bernd in seiner Kindheit hatte teilnehmen müssen. Das, sagte er, habe ihm nachhaltig den Appetit verdorben.
Werner hatte ein Paket von seinen Eltern vor sich stehen. Er war der einzige, der keinen Ärger bekam, weil er Weihnachten nicht zu Hause verbrachte. Seine Eltern leiteten ein Kurhotel in Bad Schallerbach. Werner sagte, sein Vater sei froh, wenn er dort gar nicht erst auftauchte.
Wir waren gerade dabei, die Kekse, die in dem innen mit Weihnachtspapier ausgeschlagenen Paket gewesen waren, in sieben Häuflein zu sortieren, als Walter mit dem Stoff ankam. Er war außer Atem und sagte, es sei am 24. Dezember gar nicht so einfach, etwas davon aufzutreiben. Zumindest dann nicht, wenn man auf Qualität Wert lege. Während Petra und ich Baiserkringel an silbernen Fäden, die Hans zurechtgeschnitten und Paul zusammengeknüpft hatte, an die Tanne hängten, drehte Walter den ersten Joint. »Nur für die Köche«, sagte er, worauf er sich mit dem Joint und mit Werner und Chicco, seinem Kater, in die Küche zurückzog, wo sie sich daranmachten, Zwiebelsuppe zu kochen, eine Spezialität Werners. Walter assistierte ihm. Er schnitt die Zwiebeln, weil ihm die Augen davon nicht tränten.
Während wir im ersten Stock immer noch Baiserkringel aufhängten, hörten wir es aus der Küche kichern.
»Wenn das Telefon läutet, geh ich nicht ran«, sagte Hans, der Angst hatte, seine Mutter könnte anrufen, um ihn zu überreden, doch noch am Heiligen Abend nach Hause zu kommen. Paul zuckte die Schultern. Eine Weile saßen wir schweigend unter dem Weihnachtsbaum. Dann öffnete Bernd unsere Kerzenkiste mit verschiedenen Kerzen und Kerzenstummeln in verschiedenen Farben, die sich im Laufe des vergangenen Jahres angesammelt hatten. Die befestigten wir mit Hilfe von Petras Haarclips am Baum, löschten das elektrische Licht und zündeten die Kerzen an. Kurz darauf kam Walter aus der Küche zurück und drehte den ersten gemeinsamen Joint. Er war dick wie eine Zigarre. Ich spürte die Wirkung nicht gleich. Sie kam erst nachdem Werner die Zwiebelsuppe gebracht und aufgeteilt hatte und ich mitten im Essen plötzlich begriff, was für ein wunderbares Gemüse die Zwiebel ist. Der Toast war knusprig, der Käse zog sich, die Suppe war scharf vom Pfeffer und mild von der flüssigen Butter. Alles verband sich in Harmonie. Bis zu dem Augenblick, als es an der Haustür läutete.
Alle hörten auf zu essen. Wir sahen einander an. Hans war der erste, der sprach. »Meine Mutter«, sagte er leise.
»Blödsinn«, sagte Walter ebenso leise. Und, mit belegter Stimme: »Es kann nur ein Bulle sein.« Es läutete zum zweitenmal. Petra, die noch bleicher aussah, als sie ohnehin schon war, sagte: »Vielleicht suchen sie mich.«
»Ach was«, sagte Paul, »das ist mein Vater. Wahrscheinlich ist meine Stiefmutter gestorben.«
Ich kroch auf allen vieren zur Balkontür und sah durch den Vorhangspalt hinaus.
Zuerst sah ich nur den Schnee vor unserer Haustür. Dann sah ich einen Augenblick lang ganz deutlich meine Eltern. Sie standen unten im Schnee und waren sehr klein. Sie winkten und streckten ihre Arme nach mir aus. Ebenso plötzlich, wie sie gekommen waren, waren sie aber auch schon wieder verschwunden. »Ich sehe gar nichts«, sagte ich. Da läutete es zum drittenmal.
»Der Shit muß weg«, sagte Bernd, rührte sich aber nicht. Die Kerzen am Weihnachtsbaum flackerten. Es läutete jetzt lang und anhaltend.
»Klingt, als ob es dringend wäre«, sagte Paul.
Werner nahm das Bröckchen Haschisch, das in ein Stück Silberpapier eingewickelt vor ihm lag, und schlich damit auf Zehenspitzen ins Bad. Wir hörten die Toilettenspülung rauschen. Es klang wie ein Wasserfall nach der Schneeschmelze. Oder ein schlecht eingestelltes Megaphon, in das jemand Parolen brüllt. Mit einem letzten Aufjaulen verstummte die Wasserspülung. Es war jetzt ganz still. Keiner wagte etwas zu sagen. Aber es läutete nicht mehr.
Werners Hand zitterte, als er wieder zu essen anfing.
»Los, Leute«, sagte er, »wird ja alles kalt.«
Nachdem wir uns alle wieder über die Zwiebelsuppe hergemacht hatten – ich lauschte noch unwillkürlich den Geräuschen, die von der Straße hätten kommen können –, sagte Walter: »Vielleicht war es die Korb.«
Die Korb war die Hausbesitzerin, die uns genau gegenüber wohnte und den ganzen Tag im Fenster lag und uns beobachtete. »Sie wird gekommen sein, um uns frohe Weihnachten zu wünschen.«
»Ja«, sagte Werner, »die will auch mal was erleben.«
Walter war der erste, der lachte. Nach kurzer Zeit lachten wir alle. Sogar Petra. Wir lachten so laut und so lange, bis nichts mehr von der Stille draußen zu hören war.
»Alter«, sagte Walter irgendwann zu Werner, »vielleicht kriegen wir das Zeug ja wieder raus.« Er meinte den Shit im Klo.
»Und in Mondsee«, sagte Bernd, während Walter und Werner sich im Bad zu schaffen machten, »fressen sie jetzt Wachteleier.«
Hans, der einzige von uns, der aus einer Arbeiterfamilie kam, die, wie ich während der Weihnachtsfeier bei seinen Eltern im Jahr davor am eigenen Leib erfahren hatte, am Heiligen Abend Schweinskopf aß, lachte noch immer oder schon wieder, bis er sich an der Suppe verschluckte. Paul und ich klopften ihm auf den Rücken.
Nachdem Walter und Werner unverrichteter Dinge wie-der aus dem Bad zurückgekommen waren – »Der Stoff schwimmt längst in der Salzach«, sagte Walter –, aßen wir die Weihnachtskekse von Werners Mutter auf. Dann kamen die Baiserkringel dran. Und schließlich die alte Schokolade, die Hans in seinem Wäscheschrank gesucht und gefunden hatte. Wir aßen und lutschten und kauten und schluckten. Mitten im Zimmer stand die Zwei-Meter-Tanne und strahlte. Die Watte, mit der sie dicht behangen war, machte weiße Flecken im Licht.
Werner öffnete die Balkontür. Kalte, frisch riechende Winterluft kam ins Zimmer und prickelte auf der Haut. Draußen, auf Werners Balkon, lag hoch der Schnee.

Rezensionen

»Über Margit Schreiners Sätzen liegt, wie Bitterschokolade, ein Hauch von zartem Zynismus.«
Ulrich Weinzierl, Frankfurter Allgemeine Zeitung

»Es war ein Glücksfall von Margit Schreiner bei Schöffling eine neue Heimat zu finden. (...) Ihre Leichtigkeit lässt fast übersehen, wie durchkomponiert ihre Texte sind.«
Evelyne Polt-Heinzl, Die Presse

»Schreiner schreibt erfolgreich die eigene Biographie, liefert aber zwischendurch Fremdbeobachtungen und Skizzen. All das ist stimmig, humorvoll und mit leichter Hand in kleine Vignetten gefasst.«
Robert Schediwy, Bücherschau

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