Mareike Krügel: Bleib wo du bist

Mareike Krügel
Bleib wo du bist

Roman

232 Seiten. Gebunden
€ 18,95   €[A] 19,50   
ISBN: 978-3-89561-074-5

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Schon von Weitem fallen die Unmengen an Speck auf, in Streifen, Stücken und Scheiben auf den silbernen Vorlegeplatten des Büffets. Der ganze Saal ist in traniges Gelb getaucht, die tief hängenden Tiffanylampen brennen, obwohl es draußen noch gar nicht dunkel ist. Über der Tür das geschnitzte Holzschild mit der Aufschrift Große Laugenspitze, auf dem Fußboden ein burgunderfarbener Teppich, dunkelbraune Täfelung an den Wänden. Matthias Harms hat kurz das Gefühl, direkt in einen Albtraum hineinzuspazieren. Er wünschte, Günther wäre mitgekommen, wie er es vorhatte, der würde jetzt sicher eine richtig bissige Bemerkung zu der ganzen Szenerie machen und ihn damit aufmuntern. Die Zugfahrt von Hamburg war nicht gerade optimal verlaufen. Ein verpasster Anschluss wegen eines Schwindelanfalls auf der Bahnhofstoilette verlängerte die Fahrt unnötig, später ein ausgedehntes Herumstehen auf freier Strecke aufgrund eines Personenschadens, die Telefonverbindung war ständig unterbrochen, und ein Gespräch mit seiner Mutter konnte er beim besten Willen nicht zu Ende führen. Daran waren die Berge schuld, die Tunnel, das schlechte Wetter unterwegs. Immerhin war er rechtzeitig zur Eröffnungsveranstaltung im Hotel eingetroffen, nur hatte er eben noch keine Zeit gehabt, ein Bad zu nehmen und sich die Nacht im Zug abzuspülen wie ursprünglich geplant. Das Gute ist, dass er durch die längere Fahrt auch mehr arbeiten konnte. Außerdem scheint in Meran die Sonne, es ist unerwartet warm. Und schließlich hat er sich auf das Wochenende in den Bergen ja durchaus gefreut.
Ein Kollege, den er bereits von anderen Tagungen kennt, kommt auf ihn zu, Hermann Manfred, oder auch Manfred Hermann, er kann sich das einfach nicht merken. Der begrüßt ihn, als wären sie schon immer dicke Freunde gewesen, zieht ihn am Ärmel hinter sich her in den Saal, und Matthias ist zu gut erzogen, um sich dagegen zu wehren.
Hermann Manfred findet einen Tisch in einer Ecke für sie beide, und Matthias schiebt sich folgsam auf eine Holzbank mit losen Kissen, die sofort verrutschen. Nach und nach füllt sich der Saal.
Zu ihnen setzen sich drei weitere Herren, einer auf die Bank, zwei auf die Stühle, Vorstellen, Händeschütteln. Matthias hört Hermann Manfreds Namen in der richtigen Reihenfolge und vergisst sie sofort wieder, keiner von ihnen am Tisch trägt die Namensschilder, die im Zimmer bereitlagen. Dann sitzen sie alle da und warten, dass es losgeht, mit weit auseinander gestellten Beinen, verschränkten Armen, Kinn auf der Brust, wie Platzhirsche, und Matthias freut sich heimlich, als er sieht, dass die Kellnerin, die kommt, um Getränkebestellungen aufzunehmen, tatsächlich eine lederne Hirschapplikation auf ihrem Rock hat und Hornknöpfe an der Bluse. Sie bestellen alle Bier. Der Programmpunkt dieses Abends heißt »Geselliges Beisammensein«.
Manfred Hermann dreht sich auf seinem Sitzkissen hin und her, späht an den anderen vorbei in den Saal und sagt: »Es sind ganz schön wenig Frauen hier.«
»Auf so einer Tagung hat man eben nichts zu suchen, wenn man mit seinen Patienten immer einer Meinung sein will«, sagt Matthias. Es soll ein Witz sein, aber die Platzhirsche nicken zustimmend. Daraufhin hält er lieber erst mal den Mund. Es ist zu warm, man kommt ins Schwitzen, der Lärm ist beträchtlich – offensichtlich ist ihr Tisch der einzige, an dem Schweigen herrscht. Das Bier kommt und sorgt für Beschäftigung. Auf den Gläsern sind Tannenbäume abgebildet.
Zur Erleichterung der geselligen Runde werden irgendwann die Ziehharmonikatüren zwischen Speisesaal und Lobby zugezogen, und jemand klopft an ein Glas. Ein Mann erhebt sich, er trägt eine Lodenjacke und hält eine kleine Eröffnungsrede. Matthias kennt ihn, sie haben miteinander telefoniert, Huber heißt er, und er leitet diese Tagung. Er grinst viel, während er spricht, fummelt sich im Gesicht herum und behält die ganze Zeit eine Hand in der Hosentasche. An der Sprachmelodie und den Konsonanten hört man deutlich, dass er aus der Gegend kommt. Er bittet darum, auch das Rahmenprogramm zu beachten, stellt besondere Gäste vor – für jeden Tag ist ein Mittagsredner eingeladen –, und alle Köpfe drehen sich, als er in Matthias’ Richtung deutet. Nachdem er ein paar Veränderungen im Ablauf aufgezählt hat, macht er einen Witz – Wie viele Psychologen braucht man, um eine Glühbirne
einzudrehen? – und fordert zum Schluss alle auf, sich reichlich vom Speck zu bedienen, und für den Fall, dass er irgendjemandem noch nicht aufgefallen ist, wedelt er mit den Armen Richtung Büffet. Er nimmt sich sogar einen Moment, um dessen Herstellung zu erläutern: besonderes Räucherverfahren, Lufttrocknung,
Edelschimmel, ganzer Schinken, heimisches Schwein. Es gibt Applaus, dann beginnt die Geselligkeit offiziell. Im Hintergrund dudelt Musik.
Matthias hat keinen rechten Appetit, aber die anderen sind bereits aufgestanden, um sich am Büffet anzustellen, und so allein am Tisch kommt er sich verloren vor. Mit einem Teller in der Hand geht er langsam an den Servierplatten vorbei, er hat keine Ahnung, was er sich nehmen soll. Speck ist eigentlich nichts für ihn, aber er nimmt sich pflichtschuldig ein paar grob heruntergesäbelte Scheiben; der Salat mit Gemüsestückchen und reichlich Mayonnaise besteht zu fünfzig Prozent aus Perlzwiebeln. Die Butterstücke, in Form von Kleeblättern ausgestanzt, kommen aus dem Tiefkühler und schwitzen Wasser aus. Die panierten Schnitzel sind natürlich längst kalt, die Salatkomponenten zum Selber-Zusammenstellen sind großenteils eingelegt und riechen säuerlich (grüne Bohnen, Krautsalat, rote Bete).
Am Ende hat er im Wesentlichen Brot auf seinem Teller, eine Scheibe von dem Mischbrot, das so groß ist wie ein Autoreifen, einen trockenen Fladen mit hubbeliger Oberfläche, von dem er hofft, er werde wie Knäckebrot schmecken, und eine Hälfte von einem flachen, runden Brot, das diverse Gewürze enthält. Er meint, es aus einem Urlaub seiner Kindheit zu kennen, den er mit seiner Familie hier verbracht hat. Er weiß noch, dass sein Vater damals bei einer Wanderung für alle drei Kinder mit seinem Filzhut Wasser schöpfte, als sie an einer Quelle Rast machten. Die Wanderung war mörderisch gewesen. Sonst erinnert er sich an fast nichts mehr. Das Ganze ist gut vierzig Jahre her.

Rezensionen

»So temporeich wie witzig.«
Katrin Hillgruber, Frankfurter Rundschau

»Mit leiser Stimme und äußerst differenziert beschreibt sie das Innenleben des vielgeplagten Mannes.«
Martin Schulte, Schleswig-Holsteinischer Zeitungsverlag

»Ein Sog, an dem sich staunenswert offenbart, wie nah diese scheinbar so unspektakuläre Geschichte der Katastrophe kommt.«
Kieler Nachrichten

»Sie hat einen sehr genauen Blick für Alltags-Skurrilitäten und das gibt dem Roman neben dem sehr ernsten Thema einen ganz besonderen Charme.«
Rainer Moritz, NDR Kultur

»Im Hinblick auf ihr Buch hat sich die Autorin mit Neuropsychoanalyse beschäftigt und eine changierende Familiengeschichte (...) geschrieben.«
Buchmarkt

»Eine wunderbare Balance entsteht.«
LÜÜD

»Ein ernstes Buch, aber gleichzeitig eine ganz schöne Geschichte.«
Svenja Lanz, NDR1 Welle Nord

»Mit Witz und einem untrüglichen Sinn für Situationskomik.«
Sabine Grunwald, aviva-berlin.de

»Tiefsinnig, reflektiert und sehr kompetent weist die Autorin auf Ambivalenzen hin, die das Leben bestimmen.«
Claudine Borries, sandammeer.de

Außerdem erschienen von Mareike Krügel

Mareike Krügel: Die Tochter meines Vaters