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Juan Gabriel Vásquez
Die geheime Geschichte Costaguanas
Roman
Aus dem Spanischen von Susanne Lange
336 Seiten. Gebunden. Lesebändchen
€ 22,95 €[A] 23,60
ISBN: 978-3-89561-006-6
Sagen wir es rundheraus: Der Mann ist tot. Nein, das reicht nicht. Ich will genauer sein: Der Romancier ist tot (mit Betonung auf »der«). Sie wissen, wen ich meine. Nein? Also noch einmal: Der große Romancier der englischen Sprache ist tot. Der große Romancier der englischen Sprache ist tot, ein gebürtiger Pole, erst Seemann, dann Schriftsteller. Der große Romancier der englischen Sprache ist tot, ein gebürtiger Pole, erst Seemann, dann Schriftsteller, der vom verhinderten Selbstmörder zum lebenden Klassiker wurde, vom gemeinen Waffenschmuggler zum Juwel der britischen Krone. Meine Damen und Herren: Joseph Conrad ist tot. Ich empfange die Nachricht wie etwas Vertrautes, wie einen alten Freund. Und dann wird mir, nicht ohne einen Anflug von Trauer, bewusst, dass ich mein ganzes Leben lang auf sie gewartet habe.
Während ich zu schreiben beginne, liegen alle Londoner Tageszeitungen (ihre mikroskopischen Buchstaben, das Gewirr ihrer schmalen Spalten) aufgeschlagen auf dem grünen Leder meines Schreibtischs. Durch die Presse, die so unterschiedliche Rollen in meinem Leben gespielt hat, es mal zu ruinieren drohte, mal seinen bescheidenen Glanz hervorhob, erfahre ich von dem Infarkt und seinen näheren Umständen, von der Krankenschwester Vinten, die eben noch bei ihm gewesen war, vom Schrei, den man im unteren Stockwerk hört, vom Körper, der aus dem Lesesessel kippt. Die sensationslüsternen Zeitungen lassen mich an der Beerdigung in Canterbury teilnehmen, die aufdringlichen Reporter zeigen mir, wie die Leiche in die Grube gesenkt und der Grabstein aufgestellt wird, dieser Grabstein mit all seinen Fehlern (ein falsch gesetztes c, ein vertauschter Vokal bei einem der Vornamen). Heute, am 7. August 1924, während man in meinem fernen Kolumbien den hundertfünften Jahrestag der Schlacht von Boyacá feiert, wird hier in England mit feierlichem Pomp das Hinscheiden des großen Romanciers beklagt. Während man in Kolumbien des Sieges der Unabhängigkeitskämpfer über die Streitkräfte des spanischen Imperiums gedenkt, wird hier, in der Erde dieses anderen Imperiums, für immer der Mann begraben, der mich bestohlen hat …
Aber nein.
Noch nicht.
Noch ist es zu früh.
Zu früh, um die Art und Weise des Diebstahls zu erklären, zu früh, um zu erklären, welches Gut gestohlen wurde, welches Motiv der Dieb hatte, welchen Schaden sein Opfer erlitt. Schon höre ich Fragen aus dem Parkett aufsteigen. Was kann ein berühmter Romancier mit einem armen, namenlosen Kolumbianer im Exil gemein haben? Geduld, werte Leser. Verlangen Sie nicht, anfangs schon alles zu erfahren, bohren Sie nicht, fragen Sie nicht, denn in dieser Geschichte wird der Erzähler ganz wie ein guter Familienvater nach und nach für das Nötige Sorge tragen … Mit einem Wort: Überlassen Sie alles mir. Ich werde entscheiden, wann und wie ich erzähle, was ich erzählen möchte, wann ich verschleiere, wann ich enthülle, wann ich mich aus Lust an der Freude in den Winkeln meines Gedächtnisses verliere. Ich werde Ihnen von unvorstellbaren Morden und unvorhersehbaren Galgentoden erzählen, von eleganten Kriegserklärungen und schlampigen Friedensschlüssen, von Bränden und Überschwemmungen, von intrigierenden Schiffen und verschwörerischen Zügen, und alles, was ich erzähle, wird Ihnen und mir selbst gewissermaßen Glied für Glied die Kette der Ereignisse erklären, die zu der Begegnung führten, die meinem Leben vorherbestimmt war.
Ja, genau, diese leidige Sache mit dem Schicksal trägt bei all dem ihr Quäntchen Verantwortung. Conrad und ich, die wir unzählige Meridiane voneinander entfernt auf die Welt kamen und von unterschiedlichen Hemisphären geprägt wurden, wir hatten eine gemeinsame Zukunft, die selbst dem größten Skeptiker auf Anhieb hätte ins Auge springen müssen. Wenn derlei geschieht, wenn zwei Menschen, die an so fern liegenden Orten geboren werden, dazu bestimmt sind, einander zu treffen, lässt sich ihre Route a posteriori verfolgen. In den meisten Fällen kreuzen sich die Wege nur einmal. Franz Ferdinand begegnet in Sarajevo Gavrilo Princip, und Opfer seiner Schüsse werden er, seine Frau, das 19. Jahrhundert und alle Gewissheiten des damaligen Europas. General Uribe Uribe begegnet in Bogotá zwei Bauern, Galarza und Carvajal, und stirbt kurz darauf nahe der Plaza de Bolívar, eine Axt im Schädel und auf den Schultern die Last mehrerer Bürgerkriege. Auch Conrad und ich sind nur an einem Punkt zusammengetroffen, wären uns jedoch um ein Haar schon viel früher begegnet. Dazwischen liegen siebenundzwanzig Jahre. Das gescheiterte Treffen, zu dem es beinahe gekommen wäre, aber nicht kam, gehört ins Jahr 1876, in die kolumbianische Provinz Panama; die andere Begegnung – die wahrhaftige, unselige – gehört in die letzten Novembertage des Jahres 1903 und hierher, in dieses imperiale Babel, ins dekadente London, in diese Stadt, in der ich schreibe und wo mich voraussichtlich der Tod einholen wird, in die Stadt des grauen Himmels und des Kohlegeruchs, in die ich aus Gründen kam, die zu erklären nicht einfach, aber unerlässlich ist.
Ich kam nach London, wie so viele Leute von so vielen Orten, auf der Flucht vor der Geschichte, die mir das Schicksal zugedacht hatte, oder vielmehr vor der Geschichte des Landes, das mir das Schicksal zugedacht hatte. Anders gesagt, ich kam nach London, weil mich die Geschichte meines Landes verstoßen hatte. Oder noch besser, ich kam nach London, weil hier seit langem schon keine Geschichte mehr stattfand, nichts passierte mehr in diesen Breiten, alles war schon erfunden und getan, jede Idee gedacht, alle Imperien errichtet, alle Kriege gefochten, so dass ich für immer sicher sein würde vor dem Schrecken der großen Augenblicke, die das kleine Leben bestimmen können. Herzukommen war somit ein legitimer Akt der Selbstverteidigung. Diejenigen, die über meine Taten zu urteilen haben, sollten das berücksichtigen.
Denn auch ich bin ein Schuldiger in diesem Buch, auch ich stelle mich der Anklage, obwohl der geduldige Leser noch einige Seiten vor sich hat, bevor er entdeckt, wessen ich mich beschuldige. Ich, der ich vor der großen Geschichte hierher floh, springe nun ein ganzes Jahrhundert zurück, um meiner kleinen Geschichte auf den Grund zu gehen, denn ich will versuchen, die Wurzeln meines Unglücks freizulegen. In jener Nacht, der Nacht unserer Begegnung, hörte Conrad eben diese Geschichte von mir, und nun, liebe Leser – Leser, die Sie mich richten werden – sind Sie an der Reihe. Auf diesem Fundament ruht mein Bericht: Alles, was Conrad erfuhr, sollen auch Sie erfahren.
(Aber da ist noch jemand anderes … Eloísa, auch für dich sind diese Erinnerungen, diese Bekenntnisse. Auch du sollst zu gegebener Zeit über meinen Freispruch oder meine Verurteilung befinden.)
Rezensionen
» Vásquez erweist sich mit diesem Roman als würdiger Chronist seines Geburtslandes.«
DER SPIEGEL
»Ein Buch, aus dem man ungeheuer viel lernt - während man voller Abenteuerlust, wie ein lesendes Kind, in einer vergangenen Welt versinkt.«
Katharina Döbler, Deutschlandradio Kultur
»Planung und Bau des Panamakanals dienen als prächtige Kulisse für diese kraftvolle Posse, die tolle Haken schlägt und böse Witze reißt (...).«
STERN
»Die geheime Geschichte Costaguanas ist ein Epos über Lateinamerika, das Ängste und Sehnsüchte gleichermaßen nährt.«
Harald Loch, Frankfurter Neue Presse
»Ein aberwitziges, tragikomisches Buch an historischen Schauplätzen.«
St.Galler Tagblatt
»Mit Die geheime Geschichte Costaguanas legt Juan Gabriel Vásquez ein Stück Literatur vor, das gekonnt verschiedene Erzählebenen ineinanderschiebt, aber trotz seiner komplexen Struktur überschaubar bleibt.«
RBB Inforadio
»Hochintelligenter Abenteuerroman. (...) Ein unvergessliches Buch.«
Marko Martin, Neue Zürcher Zeitung
»Die geheime Geschichte Costaguanas ist ein breit orchestrierter Abenteuerroman voll dramatischer Kapriolen, blutender Herzen, sinistrer Intrigen und rauchender Karabiner.«
Merten Worthmann, Süddeutsche Zeitung
»Die Neugeburt des Abenteuer-Romans aus dem Geist ziviler Skepsis. Senor Váquez - Chapeau!«
Marko Martin, Märkische Allgemeine Zeitung
»Die geheime Geschichte Costaguanas ist ein brillant erzähltes Buch über ein Kapitel kolumbianischer Geschichte und zugleich eine ganz persönliche Vater-Sohn-Erzählung.«
Gabriele Knetsch, Bayerischer Rundfunk
»Die geheime Geschichte Costaguanas erzählt neben der Lebensbeichte von José Altamirano auch das Leben Joseph Conrads.«
Andrea Kaden, Die Tageszeitung
»So schafft Vásquez eine großartige Hommage an den Abenteuerroman und zugleich dessen Problematisierung in der Tragikomödie.«
Klaus Zeyringer, Der Standard
»Vásquez hat einen richtig schönen Abenteuerroman geschrieben, kurzweilig und doch tiefgründig. Der Leser imaginiert sich in eine fremde Welt, die doch merkwürdig vertraut ist (...).«
Hamburger Abendblatt
»Hin und her springend zwischen der eigenen und Conrads Lebensgeschichte erzählt Altamirano von den Auseinandersetzungen in seinem Land.«
Maria Rosa Zapata, Der Tagesspiegel
»Ich habe das Buch verschlungen.«
Felix Schneider, DRS 2
»Humorvoll und mit großem Spaß am Erzählen ist dieses Buch geschrieben. (...) Wie ein Abenteuerroman. (...) Grandios!«
Tobias Lindemann, Radio Z
»Eine grandiose literarische Odyssee!«
El País