Burkhard Spinnen: Langer Samstag

Burkhard Spinnen
Langer Samstag

Roman

304 Seiten. Broschur.
€ 14,90   €[A] 15,40   
ISBN: 978-3-89561-510-8

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Es war der Donnerstag in der letzten Woche der großen Schulferien. Ulrich Lofart war ganz außergewöhnlich früh wach geworden und weit vor der üblichen Zeit mit dem Rad zur Arbeit aufgebrochen; da fiel ihm vor dem Supermarkt ausgangs seines Viertels ein großes, sauber handgemaltes Plakat ins Auge, rote, kräftige Buchstaben mit schwarzem Rand auf hellgelbem Grund: WIR BAUEN UM, DER VERKAUF GEHT WEITER!
Lofart hielt an. Das Schild klebte, als einziges, von innen an der Scheibe. Er stieg vom Rad und schob es um die Straßenecke. Dort war der Haupteingang des Supermarktes, und da klebten noch zwei solche Schilder. Bei einem war die Schrift gegen den rechten Rand hin etwas gestaucht.
Lofart stieg wieder auf. Er besaß seit einiger Zeit den Hauptschlüssel zum Bürogebäude der ELWA, jetzt fuhr er ohne Umweg dorthin, brachte das Rad von der Parkseite her in den Keller und erledigte, bevor die anderen kamen, eine Menge liegengebliebener Arbeit. Gegen zehn war sein Schreibtisch fast leer, und er konnte den Rest des Tages darauf verwenden, über eine Art Planspiel nachzudenken, das ihm die Direktion in der letzten Woche vorgelegt hatte: Ob es, zum Beispiel nach einer Fusion, möglich sei, die Arbeit seiner Abteilung, der Rechtsabteilung, in den allgemeinen Ablauf zu integrieren? Was dann zu tun sei? Selbstverständlich bei Wahrung der Effizienz.
Nach dem Mittagessen ging Lofart durch die Flure, oder er saß in den Foyers bei den Aufzügen und beobachtete, wie die Angestellten vorbeigingen. Natürlich waren da Hintergedanken im Spiel. Soviel war ihm klar. Am Ende testete die Direktion bloß, wo sich Personal einsparen ließe. An einer wirklichen Umstrukturierung konnte jedenfalls keinem gelegen sein; nichts war ja im Moment schlimmer, als die gewohnten Abläufe zu stören. Nur die Kosten, die mußten gesenkt werden. Lofart lachte heimlich. Da könnte er also leicht für Aufregung sorgen.
Als die Kernarbeitszeit zu Ende war, ging er noch einmal in seine Abteilung, machte sich ein
paar Notizen, auf dem Weg hinaus verabschiedete er sich von Froitzheim, seinem Stellvertreter. Und weil ihm trotz allem der Tag gerade erst angebrochen schien, beschloß er ganz plötzlich, schon auf der Rückfahrt, bei dem Supermarkt anzuhalten und so lange darin zu bleiben, bis er alle Dinge, die in seinem Haushalt fehlten, zusammengekauft hätte. Die Idee gefiel ihm so gut, daß er laut vor sich hin pfiff. Angekommen, schloß er das Rad an einen Ständer und sah nach, ob er genügend Bargeld und für den Notfall Schecks dabeihatte. Dann trat er ein.
Von den Bauarbeiten im Supermarkt bemerkte Lofart, obwohl er sich umsah, zuerst nichts Bestimmtes. Nur die Gemüseregale, an denen er, da er ganz anderes im Sinn hatte, rasch vorbeiging, schienen ihm weniger gefüllt als sonst; aber das mochte eine Täuschung sein. Halt machte er dann vor dem Regal mit den Toiletteartikeln. Hier war kein langes Suchen: Zahnpasta konnte man nie genug im Haus haben, und Rasiercreme! Beides vergaß er regelmäßig zu erneuern, immer wieder mußte er sich tagelang mit winzigen Resten behelfen, und jedesmal schnitt er am Schluß die Tuben, nachdem er sie schon mehrfach entrollt und zur Öffnung hin gequetscht hatte, am unteren Ende mit einer Schere auf, weitete sie zu einer Röhre und schabte sie mit einem Löffel aus. Eigentlich unmöglich! Als er jetzt von jedem fünf Tuben in seinen Einkaufswagen warf, zudem verschiedene Marken, fühlte er etwas wie eine Sicherheit, das könne nie wieder geschehen. Er legte eine große Packung Toilettenpapier und, obwohl er das sonst nie im Hause hatte, feuchte Reinigungstücher daneben; zu der Vorratspackung gab es einen Spender, der an der Wand zu befestigen war. Als er nun noch Seife und Shampoo nahm, beides in großen Sparpaketen, war der Wagen schon halb gefüllt, und bevor er weiterging, stapelte Lofart alles so, daß es nach oben hin beinahe glatt abschloß.
An die Toiletteabteilung grenzte die für Haushaltwaren. Mülltüten! hätte er beinah laut gesagt, und Müllsäcke, in denen er, wenn die großen Tonnen wieder einmal voll sein würden, seinen Abfall an die Straße stellen könnte, statt ihn zurück in die Wohnung tragen oder ihn im Keller deponieren zu müssen, wo er ihn regelmäßig vergaß. Einmal hatte ihn tatsächlich eine Nachbarin auf den Gestank angesprochen. Und Glühbirnen! Lofart ging im Kopf alle Lampen seiner Wohnung durch, Kerzenform oder normal, matt oder klar, die ungefähre Wattzahl. Welch eine Vorstellung, beim Ausfall jeder einzelnen Birne den richtigen Ersatz im Haus zu haben! Lofart schnippte laut mit den Fingern.
Endlich kam er vor eine Wand zu stehen, wo kleine Gebrauchsartikel, in durchsichtigen Boxen oder mit Folie auf Pappen gezogen, übereinander an Metallhaken hingen. Eine Zeitlang wußte er nicht, was tun. Und mit einem Mal kam ihm sein ganzes Unternehmen lächerlich vor. Er wollte schon den hochbeladenen Wagen heimlich verlassen, eine Kleinigkeit nehmen und damit zur Kasse gehen; doch dann beschloß er, auch die Artikel an der Wand rasch aber konzentriert durchzugehen. Er nahm schließlich einen PRITT STIFT herunter, Heftpflaster, ein kleines Etui mit Nähnadeln und Garn in verschiedenen Farben, einen Öffner für Büchsenmilch, eine Schachtel Heftzwecken mit bunten Kunststoffköpfen, eine Packung Photo-Klebe-Ecken und doppelseitig klebende Haftpunkte. Schließlich suchte er unter den lose in einem Fach liegenden Wegwerffeuerzeugen eines aus, von dem er annahm, daß sich der Preisaufkleber gut würde entfernen lassen.
Das alles hatte er, so gut wie möglich, in dem jetzt übervollen Einkaufswagen arrangiert, als er beim Aufschauen eine junge Frau sah, die gerade den Mittelgang in Richtung der Fleisch- und Käsetheken ging. Sie schien Lofart, obwohl sie gleich hinter dem nächsten Regal verschwunden war, sehr schön. Kurz entschlossen wollte er ihr folgen, doch eines der drehbaren Vorderräder hatte sich quergestellt, er mußte zwei-, dreimal dagegentreten. Und als er den Wagen endlich in den Mittelgang geschoben hatte, war die Frau nicht mehr zu sehen.

Rezensionen

»Burkhard Spinnen setzt einen neuen Maßstab. Er hat über kleine Dinge einen großen Roman geschrieben.«
Frankfurter Allgemeine Zeitung

»Ein unterhaltsamer, bestens geschriebener und dabei blitzgescheiter Roman.«
Martin Lüdke, Frankfurter Rundschau

»Burkhard Spinnen schreibt mit unaufdringlichem, oft skurrilem Humor in einer klaren, ungekünstelten Sprache; jeder Satz sitzt.«
Dietmar Sous, Freitag

»Blicke auf das ganz gewöhnliche Leben können in Burkhard Spinnens glasklarer Sprache zu atemberaubenden Offenbarungen werden.«
NDR

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