Ana Novac: Die schönen Tage meiner Jugend

Ana Novac
Die schönen Tage meiner Jugend

Mit farbigen Abbildungen
Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer

320 Seiten. Gebunden.
€ 22,90   €[A] 23,60   
ISBN: 978-3-89561-415-6

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Ein Alptraum: ich habe meinen Bleistift verlegt. Schreckensstarr bin ich aufgewacht und habe, ohne mich um das Keuchen und Schnarchen um mich herum zu kümmern, in meinem Strohsack gewühlt. Mein Bleistift war da. Jetzt schreibe ich. Ich schreibe, daß ich schreibe. Gelobt sei der Herr oder der Zufall, gleichviel, der unter so vielen Füßen, so vielen Schritten ausgerechnet den meinen erlaubt hat, darüber zu stolpern. Aber bin ich denn wirklich gestolpert? Oder bin ich einfach vor etwas stehen geblieben, dem niemand mehr Aufmerksamkeit geschenkt hätte als einer ausgetretenen Kippe? Ich bin nur genau in diesem Moment, genau an diesem Ort stehen geblieben. Und dieses dem Schlamm entrissene, wurmstichige Etwas gibt mir in jedem Augenblick heimlich all das zurück, was mir eine Welt von Rasenden zu entreißen sucht: die Freude, ›Scheiße‹ zu sagen!

Ich habe Judy gesehen. Nur einen kurzen Augenblick, aber kein Zweifel. Unsere Blicke sind sich einmal begegnet. Ein einziges Mal. Wir haben uns abgewandt und, wie in stillschweigendem Einverständnis, nie wieder versucht, uns zu sehen. Der Reigen der nackten Körper unter dem roten Himmel, und all diese sich bewegenden Schatten . . . als wären wir einer längst vergangen Zeit, einem wilden Märchen entsprungen. Ist die elegante Gestalt in der Mitte der Stammeshäuptling? Nur seine Uniform wirkt deplaziert. Sie verfälscht das Bild. Er pfeift. Mit einer sich ständig wiederholenden Bewegung des Daumens winkt er in jeder Minute einen Körper aus dem Reigen heraus. Sein Finger bewegt sich rhythmisch, und im selben Takt schrumpft der Reigen. Wir drehen uns immer schneller . . . und werden immer weniger. Wozu? (Schon wieder eine Frage. Werde ich mir das nie abgewöhnen?) Die Deutschen bringen uns das Tanzen bei. Sonderbar! Während dieses Rituals stellte ich mir keine Fragen. Ich wunderte mich über nichts. Ich bewegte mich, drehte mich im Kreis, ohne Gewicht, ohne Mühe, wie in einem Traum.
Aber nicht davon wollte ich sprechen. Judy! Als alles vorbei war, blieb ich stehen, taumelnd, dann erblickte ich die Reihe der nackten Körper, die sich entfernte, und die Angst ernüchterte mich. Als hätte ich aus Leichtsinn oder aus Feigheit etwas Nichtwiedergutzumachendes begangen. Ich rannte in der Dunkelheit herum und rief ihren Namen. Sie war nicht unter den zurückgebliebenen. Und da fand mich Sofi. Ungewohnt schwungvoll nahm sie mich am Arm. (Wenn ich jetzt daran denke, muß ich lachen. Denn was ist grotesker als zwei sich umklammernde kahlgeschorene Nackte!)
»Ein Glück, daß man sie weggebracht hat«, sagte sie, »in der Baracke ist jetzt mehr Platz.«
Ich schwieg. Es wäre mir lieber gewesen, wenn man sie weggebracht hätte und Judy dageblieben wäre.

An Schlaf ist nicht zu denken. Glücklicherweise ist es in der Baracke nie ganz dunkel, ich kann schreiben. Wie aber diese Hieroglyphen entziffern? Gleichviel! Hauptsache, ich kann die Last unerträglicher Gedanken abschütteln. Sie loswerden. In Wirklichkeit schütze ich mich mit dieser Last – ich überspringe einige meiner Gedanken wie schwarze Löcher –, wo es doch vielleicht genügte, mich fallen, mich von dieser Niedergeschlagenheit überwältigen zu lassen. Und dort, in der Tiefe, wo man nicht mehr tiefer fallen kann, endlich schlafen, ohne Angst und ohne Träume. Doch bis dahin ist es noch ein weiter Weg, das weiß ich. Und da ist diese endlose Nacht und Judy und das Geheimnis rings um sie: Warum mußte sie auftauchen und gleich wieder verschwinden? Diese zwei verstrichenen Tage! Zweimal vierundzwanzig vergeudete Stunden. Warum haben wir uns nicht gesucht? Und am Schluß dieses feige, beschämende Lebewohl? Schämten wir uns unserer Nacktheit? Nein, es war nicht nur das. Es gibt bescheidene, geduldige Freundschaften für Regenwetter. Die unsere war unruhig, stürmisch wie Judy, fiebrig und schüchtern wie ich. Und wie wir beide, sehr unbeständig.

Rezensionen

»Ana Novacs Aufzeichnungen gehören ganz bestimmt in die allererste Reihe schriftstellerisch erfaßter KZ-Lagererfahrungen.«
Thomas Laux, Neue Zürcher Zeitung

»Witz und Ironie sind für Ana Novac wie eine Rüstung gegen die Barbarei. Ihr gesunder Sarkasmus hilft ihr dabei, bei sich selbst zu bleiben.«
Jenny Hoch, Spiegel Online

»Ana Novacs Tagebuch ist, soweit man weiß, das einzige Tagebuch, das Auschwitz überlebt hat. Es ist ein literarisches Zeugnis ersten Ranges, dessen Wucht erschüttert.«
Sascha Lehnartz, Welt am Sonntag

»Ihre Sprache ist hochpoetisch, die Schilderungen der erschiedenen Häftlingsgruppen, ihrer Rivalitäten untereinander, der Aufseherinnen und Kapos sind präzise, manchmal sogar ins Komische überspitzt.«
Stefanie Peter, Frankfurter Allgemeine Zeitung

»Nie verklärend und beschönigend, dafür ganz eigen, natürlich aus der subjektiven Sicht der Schreiberin, die manchmal ganz schön bissig, oft auch witzig sein kann.«
Balduin Winter, Der Freitag

»Ana Novac berichtet vom Lachen in der Hölle und der Banalität des Todes. Und davon, daß Literatur beim Überleben hilft.«
Carsten Hueck, Deutschlandradio

»Alles, was man bisher über das Dritte Reich zu wissen glaubte, kann man hier bis zur Unerträglichkeit des Schmerzes auch fühlen.«
Marica Bodrozic, ORF

»Ihre Aufzeichnungen schildern den Teil des Lebens und Sterbens, der in Anne Franks Tagebuch fehlt. Dort, wo deren Aufzeichnungen enden, beginnen die der Rumänin.«
Thomas Heppener, Jüdische Allgemeine

»Die schönen Tage meiner Jugend sind Leidens-, Lach- und Rachebuch in einem.«
Wolfgang Paterno, profil

»In atemloser und zum Teil sehr poetischer Sprache bannt Ana Novac die eigene Fassungslosigkeit in das Tagebuch.«
Adrian Winkler, WDR

»Die Notizen werden ihr zu einer ›zweiten Haut‹, die ›verhindert, daß alles übrige auseinanderfällt‹.«
Thomas Keul, Volltext. Zeitung für Literatur